Tödliche Ignoranz

■ Türkei: Der erste Tote im politischen Hungerstreik

Fast sechzehn Jahre sind seit dem Militärputsch in der Türkei vergangen. Damals machten die Putschisten kurzen Prozeß mit den Oppositionellen. Junge Menschen wurden in Folterkammern befördert und Kinder im Alter von siebzehn Jahren hingerichtet. „Sollen wir die denn füttern anstatt aufzuhängen!“ propagierte Putschistengeneral Kenan Evren damals.

An den Grundfesten des Regimes, das die Militärs etablierten, hat sich bis heute nichts geändert – das beweist der gegenwärtige Hungerstreik der politischen Gefangenen. Minimale Rechte für menschenwürdige Haftbedingungen werden gefordert. Doch anstatt Grundrechte zu gewähren, setzt der Staat auf Tote. Der 25jährige Aygün Ugur ist der erste Tote. Weitere werden folgen, falls nicht eingelenkt wird. Alte Mütter, die sich um ihre Kinder in den Gefängnissen sorgen, werden vor laufenden Fernsehkameras blutig geschlagen.

Die Inkaufnahme von Toten im Hungerstreik und die Verhaftungswelle gegen Familienangehörige symbolisiert die politische Kultur in der Türkei. Die Mörder in den Folterkammern der Militärs sind zu Bürokraten in den oberen Etagen geworden. Polizeichef Mehmet Agar ist heute Innenminister. Das Parlament schweigt. Noch nicht einmal eine Debatte zum Hungerstreik und der Lage in den Gefängnissen gab es dort. So scheinen Wahlen und Parlament geradezu überflüssig zu sein.

Viele in der Türkei haben sich mit der Ministerpräsidentschaft des Islamisten Necmettin Erbakan eine Wende erhofft. Schließlich gehörte auch Erbakan lange Zeit zu den Ausgegrenzten, marginalisiert vom Regime. Schließlich stand auch er einmal vor einem Militärgericht. Doch längst hat Erbakan den Platz eingenommen, der ihm gebührt: ein kleines, funktionstüchtiges Rädchen im großen Getriebe. Die Islamisten erweisen sich als Konservative und als Hüter des postmilitärischen Status quo.

Und Sevket Kazan, einst Verteidiger der religiös-extremistischen Mörder, die im zentralanatolischen Sivas ein Hotel mit den dort befindlichen Intellektuellen abfackelten, ist heute als Justizminister ein Falke gegen die Hungerstreikenden. Von Gerechtigkeit hat die politische Klasse in der Türkei derzeit keine Vorstellung. Ömer Erzeren