Der unterschätzte Samurai

Japan ist wieder da: Die Wirtschaft boomt, Investitionen und Konsum steigen. Der deutschen Industrie droht eine neue Phase der Konkurrenz  ■ Aus Tokio Georg Blume

Für den größten und ältesten Korrespondentenclub der Welt in Tokio ist es eine Ehre: Knapp zwei Stunden steht der japanische Finanzminister den ausländischen Journalisten Rede und Antwort. Er tut das höchstens einmal im Jahr, und um so größer ist der Medienauflauf. Schon wenige Stunden später wird das Ereignis an allen Börsen der Welt diskutiert, von New York über London bis Singapur kommentieren die Zeitungen die Worte des Ministers.

Wie immer spricht der Minister mal aufmunternd, mal düster, im Kern aber bleibt jeder Satz aussagelos. Wie jeder Politiker vor ihm in seinem Amt, ist auch der Sozialdemokrat Wataru Kubo ein Meister des Understatements. Ziel der seit Jahrzehnten erprobten Politik ist es, Japan in der Welt als eine kleine, schwache Insel darzustellen, und noch nie war diese Politik so erfolgreich wie heute.

Japan nach vier Jahren Rezession, schreibt etwa die Financial Times, sei „das alte Japan“. Das seriöse Blatt diskutierte noch Ende Juni allen Ernstes, ob der zusätzliche Arbeitstag des Schaltjahres 1996 der eigentliche Grund für die unerwartet guten japanischen Wirtschaftsergebnisse des Frühjahres gewesen sei. Natürlich hatte zuerst das Tokioter Finanzministerium die Mär vom Schaltjahrboom in die Welt gesetzt.

Die Leichtgläubigkeit des Auslands, orchestriert von japanischen Staatsmännern wie Kubo, kann manchen Ökonomen in Tokio zur Weißglut bringen. „Es gibt im Westen einen Haufen Kritik an den Strukturschwächen der japanischen Wirtschaft“, klagt Jesper Koll, Chefvolkswirt der amerikanischen Investmentbank JP Morgan in Tokio. „Doch der angebliche Mangel an Restrukturierung ist im Einzelfall kaum nachweisbar. Gibt es am Ende also doch ein neues Japan jenseits der Rezession?

Soviel steht fest: Nach vier Jahren Flaute prophezeit die Organisation für wirtschaftliche zusammenarbeit (OECD) und der Internationale Währungsfonds (IWF) Japan das höchste Wirtschaftswachstum unter den Industrienationen. JP Morgan in Tokio erwartet 1996 ein Wachstumstempo von 4,7 Prozent. Im nächsten Jahr soll die japanische Wirtschaft noch einmal um 2,9 Prozent zulegen.

Noch vielversprechender sind die prognostizierten Zunahmen von privatem Verbrauch (1996: 3,6 Prozent) und privaten Investitionen (1996: 8,2 Prozent). Nicht einmal die vieldiskutierten Skandale der japanischen Finanzindustrie können das Wachstum aufhalten.

Das Erstaunliche auch hier: Noch im Juni hatte niemand die japanische Wende vorausgesehen. Die Deutsche Bank mußte ihre Wachstumsprognose für 1996 innerhalb weniger Wochen verdoppeln. „Der Aufschwung wird losgehen wie eine Rakete“, verspricht Richard Werner, Chefvolkswirt des englischen Wertpapierhauses Jardine Fleming in Tokio.

Um im Bild zu bleiben: Die Rakete könnte den Start auch noch verfehlen. Konservative Ökonomen machen allein die niedrige Zinspolitik für den japanischen Aufschwung verantwortlich. Mit anderen Worten: Wenn die Zentralbank den Leitzins vom jetzigen Rekordtief von 0,5 Prozent wieder anhebt, könnten privater Verbrauch und Investitionen erneut einbrechen.

Vieles spricht allerdings gegen diese pessimistische Version. Beispiel privater Verbrauch: In Japan hat sich ein Stimmungswechsel vollzogen. Die Bürger investieren wieder in langfristige Anschaffungen wie Autos und Eigenheime. Auch Luxusgüter sind wieder gefragt. 60 bis 70 Prozent der Designerprodukte weltweit werden derzeit in Japan abgesetzt. Das Vertrauen der Verbraucher baut dabei auf eine Schlüsselerfahrung während der Rezession auf: Zwischen den Jahren 1991 und 1995 stiegen die japanischen Realeinkommen um 5,3 Prozent – zur gleichen Zeit fielen die Realeinkommen in den USA, obwohl dort die Wirtschaft boomte. Hinzu kommt das unausgeschöpfte Potential: In Japan liegt die Verbrauchsquote am Bruttoinlandsprodukt niedriger als in jedem anderen großen Industrieland.

Auch investiert wird wieder in den Standort Japan. Seit seinem Höchststand von 80 Yen zum Dollar hat die japanische Währung fast 30 Prozent verloren und liegt derzeit bei 108 Yen. Das ermöglicht Unternehmen wie Nippondenso, dem größten Autozulieferer der Welt, Fabrikaufträge im Ausland zu streichen, um daheim in neue Anlagen zu investieren.

Wechselkurse liefern allerdings keine langfristige Gewähr für den Standort Japan. Entscheidend sind deshalb die Produktivitätssteigerungen: Gerade hier aber haben sich die Anstrengungen der japanischen Unternehmen gelohnt. Bereits ein Viertel aller Hersteller sind bei einem Dollar-Kurs von 100 Yen heute konkurrenzfähig. Vor zwei Jahren war kein namhaftes Unternehmen auf diese Situation eingerichtet.

Weiterer Beweis für die Flexibilität: In der Industrie wurde seit 1991 jeder zehnte Arbeitsplatz abgebaut oder umgewandelt. Dennoch liegt die japanische Arbeitslosigkeit selbst auf der heutigen Rekordhöhe von 3,5 Prozent weit unter dem Durchschnitt der OECD-Länder – auch mit der Einschränkung, daß diese Arbeitslosenzahl durch Weiterbeschäftigung nicht mehr benötigter Arbeitskräfte in Großbetrieben geschönt ist.

„Die Frage ist nicht, ob die Umstrukturierung der japanischen Unternehmen stattgefunden hat oder nicht“, meint Jesper Koll, „sondern ob sich Japan jetzt auf den erreichten Reformen ausruht oder sich gleich auf die nächste Schlacht vorbereitet.“

Für deutsche Hersteller, die mit japanischen Unternehmen vor allem in den Schlüsselindustrien Auto- und Maschinenbau konkurrieren, beginnt damit eine neue Wettbewerbsphase. Vier Jahre Rezession in Japan haben nach Ansicht von Thomas Illemann, dem Leiter der Deutschen Bank in Japan, in deutschen Management-Kreisen „Übermut und Schadenfreude“ ausgelöst. Er mahnt: „Es war gefährlich zu unterschätzen, wie schnell es den großen japanischen Konzernen gelingen würde, sich den neuen Kosten anzupassen.“