Reptilien auf Amphetaminen

■ Zwischen Hardcore und Noise: Die Europa-Filiale des US-Labels Amphetamine Reptile befindet sich auf St. Pauli. Ein Porträt

Als der kleine große „Ugly American Overkill“ Deutschland überrollte, war Anthony Xavier Martin nicht dabei. Als 1991/92 die God Bullies, Surgery, Tar und Helmet unter eben jenem Titel die Clubs der Republik erschütterten, weilte der mittlerweile 32jährige aus Wisconsin in Madrid und widmete sich der Sprache und der Wirtschaft.

Diese Zeit, von der in Underground-sensibilisierten Kreisen gerne als „der guten alten“ gesprochen wird, sah mit Amphetamine Reptile, mit Reptilien auf Drogen, ein kleines US-amerikanisches Label aufstreben, das den nach unmittelbarer Erfahrung gierenden Nerv direkt traf: Hardcore, Noise, dreckiger Rock ohne Kompromisse, ohne Hype, ohne Fernsehen – und vor allem: ohne politisches Dogma, ohne vereinnahmende Gesten.

Einen Grundstock für diese Ausbrüche im- und explodierender Energie hatte Martin selbst gelegt, seine Band, die Bastards, veröffentlichten vor fünf Jahren zwei Platten voll massiver Psychosen, deren Produktion übrigens der mittlerweile über Nirvana, Sma-shing Pumpkins und seine eigene Band Garbage zu Ruhm gekommene Butch Vig übernommen hatte. Von Ruhm und Geld ist Martin, der seit zwei Jahren die Aktivitäten von Amphetamine Reptile in Europa lenkt, auch nach dem an Vig beispielhaft nachzuvollziehenden Ausverkauf des Indie-Rocks noch weit entfernt.

Ganz im Gegenteil: Das Label stand vor kurzem noch vor dem finanziellen Aus. Doch der Erfolg zweier mittlerweile zur Industrie abgewanderter Bands, Helmet und Boss Hog, machte in Amerika einen Neubeginn möglich und finanzierte Martins Europastützpunkt, eine Loslösung vom ehemaligen Arbeitgeber und Geschäftsführer Glitterhouse Records in Beverungen. Seit einem Jahr wird aus einer Kellerwohnung auf dem Kiez von St. Pauli heraus die neue Generation von Bands verwaltet, die Labelchef Tom Hazelmeyer in Minneapolis selektiert.

Aus dieser zweiten Welle stechen die kantigen Hammerhead, die melodischen Guzzard und das großartige Noiserock-Trio Today Is The Day hervor. Ebenso wie die Musik tendenziell zugänglicher geworden ist, hat bei AmRep auch Design Einzug gehalten. Härte darf schick sein und in bunte Farben verpackt werden. Dazu passend kümmert sich der Europachef auch um die anderen Bereiche des Lebens: Kleidung, Wandschmuck und Rauchen. Neben der Gründung eines Mailorders vertreibt Martin seit neuestem die Poster des renommierten US-Comic-Künstlers Frank Kozik, eine firmeneigene Feuerzeugserie und natürlich die begehrte AmRep-Fanbekleidung, die ihren Trägern schon immer die einmalige Kombination aus Eingeweihtheit, echtem Hardcore und lässigem Chic verlieh.

Und die Zukunft sieht gut aus. Vor kurzem schloß der große amerikanische Vater Hazelmeyer einen Kooperationsvertrag mit der Industriefirma Atlantic. Damit dürfte das Überleben bis auf weiteres gesichert sein. Auch für Martin sind Erfolge für das laufende Jahr zu verzeichnen. Die Hamburger Überflieger Tocotronic haben sich in AmReps Power-Pop-Quartett Chokebore verliebt und nahmen sie mit auf Tour. Die Melvins, Könige des doppelbödigen Rock, veröffentlichen via AmRep jeden Monat eine Single. Von Aufbruchstimmung ist trotzdem wenig zu spüren. Eine vom Büro getrennte Wohnung würde Martin erst einmal reichen.

Holger in't Veld