Wie eine Schlange, die ein Nilpferd fraß

Superschwergewichtsringer Aleksandr Karelin bleibt unbezwungen: Dennoch schämt sich der sibirische Olympiasieger – gegen den Amerikaner Matt Ghaffari siegte er im Finale nur 1:0  ■ Aus Atlanta Matti Lieske

Ich sehe Angst in den Augen der meisten meiner Gegner“, sagt Aleksandr Karelin. Die zögern nicht, die Beobachtung des übermächtigsten Ringers aller Zeiten im griechisch-römischen Stil zu bestätigen. „Als ich gegen ihn kämpfen mußte“, erinnert sich Jeff Blatnick, Goldmedaillengewinner von 1984 für die USA, „war es das einzige Mal, daß sich mir die Nackenhaare sträubten.“

Tatsächlich ist der 28jährige Karelin eine imposante Gestalt, und seine Eltern – 1,70 (Vater) und 1,68 Meter groß – fragen sich wohl heute noch hin und wieder, wie sie ein solches Riesenbaby in die Welt setzen konnten. Im wahrsten Sinne des Wortes übrigens: bei seiner Geburt wog der kleine Aleksandr gute 14 Pfund.

Inzwischen hat er noch ein paar Pfunde zugelegt. Er ist jetzt 1,92 Meter groß und wiegt 130 Kilo. Sein Körper sieht aus wie der einer Schlange, die gerade ein junges Nilpferd gefressen hat, und sein Kopf würde an der Trophäenwand eines Bisonjägers kaum auffallen. Das kahle Haupt, das kantige Gesicht, der grimmige Blick und die an Mr. Spock erinnernden großen Ohren sorgen zusätzlich dafür, daß man ihm nicht mal im Hellen begegnen möchte. Geschweige denn auf einer Ringermatte.

„Es ist, als würde man gegen King Kong kämpfen“, sagt Matt Ghaffari, der dem sechs Jahre jüngeren Mann aus Nowosibirsk im Finale gegenüberstand. Ein Sieg des gebürtigen Iraners wäre ohne Zweifel die größte Sensation dieser Olympischen Spiele gewesen, nachdem das US-Basketballteam ja tags zuvor knapp mit 33 Punkten an der Niederlage gegen Angola vorbeigeschrammt war. Noch nie hat Aleksandr Karelin einen Kampf auf internationaler Ebene verloren, seine letzte Niederlage überhaupt kassierte er 1987 als 19jähriger gegen den damaligen Teamkameraden und Weltmeister Igor Rostorotsky.

Eine Mischung aus Muhammad Ali und Tyson

Aber damit nicht genug: Seit 1988 hat es niemand geschafft, auch nur einen einzigen Punkt gegen Karelin zu erzielen. Die vom Olympiacomputer ausgedruckte Karriere- Statistik dürfte einmalig sein bei diesen Spielen. Neunzehn große Meisterschaften und Turniere der letzten neun Jahre sind aufgelistet, hinter jeder steht eine 1. Aleksandr Karelin hat sie alle gewonnen, darunter zweimal Gold bei den Olympischen Spielen, zuerst 1988 in Seoul, wo er als 20jähriger schon die Fahne der Sowjetunion trug. Karelin, das ist, als würde man beim Boxen Mike Tyson und Muhammad Ali in ihrer besten Zeit zu einer einzigen Person zusammenmontieren.

Matt Ghaffari, der bereits zwanzigmal gegen den Russen gekämpft hat, fühlte sich diesmal dennoch nicht chancenlos. Zu Hause hat er ein Poster von Karelin an seinen Schrank gehängt, um sich jeden Tag neu zu motivieren, eine Zeitlang trug er sogar ein Bild des Unantastbaren in der Brieftasche. King Kong ist seine Obsession: „Es ist mein Job, dafür zu sorgen, daß er einmal verliert.“

Diesmal waren die Chancen eigentlich besser als sonst gewesen, denn Karelin hatte sich im April bei der EM verletzt und das Turnier einarmig gewonnen. Danach hatte er sich einer Operation unterziehen müssen und drei Monate Training eingebüßt. „Er sieht nicht gut aus“, stellte Ghaffari in den ersten Runden fest, und tatsächlich hatte Superman im Finale Probleme, einen Griff anzubringen. Relativ früh gelang ihm jedoch ein winziger Punkt, und das war es auch schon. Mit einem kargen 1:0 holte Aleksandr Karelin seine dritte olympische Goldmedaille. Das haben vor ihm zwar auch drei andere Ringer geschafft; doch keiner hat wie Karelin dreimal die Fahne getragen – jedesmal für ein anders bezeichnetes Staatengebilde.

Der Mattenschreck ist abgrundtief humorvoll

Abgrundtief finster blickend kam er wenig später zur Pressekonferenz gestapft, aber bevor alle flüchten konnten, floß ein strahlendes Lächeln über sein Gesicht, und es stellte sich heraus, daß der Mattenschreck jenseits seines Arbeitsplatzes ein äußerst umgänglicher, höflicher und humorvoller Mensch ist. Schwerer als je zuvor sei es diesmal gewesen, gab er zu, Ghaffari habe aufgrund der Verletzung eine gute Chance gehabt. „Er ist stark wie immer“, grummelte der Unterlegene, der sich privat gut mit Karelin versteht („Wir haben beide denselben Haarschnitt“). „Bin ich nicht, es war nur ein 1:0“, entgegnete Karelin. Sein schlechtestes Ergebnis sei es aber nicht gewesen. Er habe sogar schon mal ein 0:0 erlebt, damals aber gewonnen, weil zu jener Zeit der aktivere Ringer zum Sieger erklärt wurde.

In der nächsten Zeit will sich Karelin erst mal in seiner sibirischen Heimat erholen. Einfach nur faulenzen sei jedoch nicht seine Sache. Offiziell ist er Oberstleutnant bei der Steuerfahndung. „Wenn man nur rumsitzt, wird man passiv und nett. Das ist nicht gut,“ sagt er. Ghaffari tritt einen Job als Ringertrainer an der Cleveland State University an, aufhören will er deshalb noch lange nicht. „Sydney, ich komme“, stellte er klar, „ich bin für die Jagd nach dem Gold geboren.“

Die Hoffnung, daß ihn in Australien kein Aleksandr Karelin erwartet, kann er wahrscheinlich begraben. „Ich mache keine Voraussagen“, erklärte dieser zwar, fügte aber hinzu: „Einmal 1:0, einmal 2:0. Ich schäme mich, glaube aber trotzdem, daß es eine Zukunft für mich gibt.“ Bei den Dallas Cowboys wird diese kaum liegen. „Ich bin in Rußland aufgewachsen“, sagte er zu dem Angebot des Super-Bowl-Gewinners im American Football, „mit solchen Dingen befasse ich mich nicht.“