Goethe im Hypertext

■ Die Hamburger „Zeit“ schrieb einen Literaturwettbewerb im Internet aus. Aber die Netzgemeinde wurde selbst zur Jury

Kann die Jury komprimierte Dateien auspacken? Sind CGI- Scripts erlaubt? Und Java- Applets? Die Zeit, eben fünfzig geworden, hatte mit IBM Deutschland zum „1. Internet-Literaturwettbewerb“ geladen und stand vor Fragen, die mit selbst jahrzehntelangen Erfahrungen in der Literaturkritik nicht zu beantworten sind. Ein Spiel mit Schrift, Satz, Bild und Grafik war gefordert, die Möglichkeiten des Internet sollten genutzt werden – das Ergebnis müsse aber nach wie vor Literatur sein. Nur welche?

10.000 Mark, zwei bessere Notebooks und ein Internet-Account winkten als Preise. Nur 60 Kilobyte sollte ein Beitrag einschließlich Grafik umfassen, was ungefähr der Datenmenge einer gedruckten Zeit-Seite entspricht. Welch eine Zumutung für Menschen, deren Gigabyte-Festplatten aus allen Nähten platzen! Schon wie vier der fünf Jurymitglieder vorgestellt wurden, war die reine Provokation: Für Reinhard Baumgart, Schriftsteller und Literaturprofessor in Berlin, seien Computer ein Rätsel, war da zu lesen. Robin Detje, Zeit-Autor, habe zwar einen PowerPC, schaffe es aber nicht, MacTCP zu konfigurieren. Iris Radisch, Zeit-Redakteurin und zeitweilig pausierende Leiterin des Literaturressorts, lebe in einem Pferdestall bei Celle und habe Angst vor ihrem 286er. Elke Schmitter, ehemals Chefredakteurin der taz, unternehme immerhin zaghafte Schritte in die Welt der Netze.

Nur Dieter E. Zimmer, Zeit-Reporter für Wissenschaftsthemen und Literatur, konnte sich als ausgefuchster Computerexperte und Multimedia-Rezensent ausweisen. In bester Usenetmanier wurde das Gremium als „Lordsiegelbewahrer der deutschen Kulturburschwasie“ beschimpft. Die Furcht ging um, daß „Leute, die keine Ahnung haben“ ihren traditionellen Literaturbegriff dem neuen Medium aufdrücken wollten, während die eher von der Gutenberggalaxis herkommenden LiteratInnen die Angst vor technischen Hürden umtrieb.

Zwischen den Extremen mühten sich die Teilnahmewilligen wochenlang darum, die Ausschreibungsvorgaben so weit zu klären, daß man endlich zur kreativen Tat schreiten konnte. Was aber ist Internet-Literatur? Ein Text? Ein multimediales Ereignis aus Video, Sound, Animationen und Interaktivität? Muß bloß ein linearer Text in Hypertext verschachtelt oder als E-Mail eingesendet werden? Ist nicht eigentlich das große weite Web schon das absolute Buch?

Die Zeit hatte sich für die kleine Form entschieden. Der Literaturbegriff des Wettbewerbs wolle seine Herkunft aus der Redaktion einer Wochenzeitung nicht verleugnen, hieß es entschuldigend auf der Seite „Fragen und Antworten“ in der Online-Zeit (http:// www.zeit.de/). Links sollten nur innerhalb der zum Beitrag gehörenden Seiten gestattet sein, also nicht hinaus in die große weite Welt führen. Das absolute Buch müsse auf spätere Wettbewerbe warten.

Nur kam die Jury schon jetzt zu spät. Die webgewandten Internet- LiteratInnen funktionierten den Zeit-Briefkasten zur Diskussionsmeile um. Als im Laufe des Mai immer mehr Beiträge fertig wurden, veröffentlichten 20 TeilnehmerInnen ihre Werke auf der Homepage des „allgemeinen Freiberuflers“ und Autors Olaf Koch (http://www.well.com/user/olaf

koch/zeitlit/zeitlinks.html), wo sie noch heute zu bestaunen sind. Burkhard Schnöder (Burkhard Schröder), Schriftsteller und freier Journalist aus Berlin- Kreuzberg, organisierte eine Abstimmung unter den bis dato bekannten TeilnehmerInnen, die – Jury hin, Jury her – ihre Favoriten selber wählen sollten. Das Vorhaben stieß zwar auf allseitige Zustimmung, versandete dann aber wegen der mittlerweile angebrochenen Urlaubszeit.

Die Jury nahm all diese Aktivitäten gerührt zur Kenntnis, erstaunt über die „ungewohnt lässige Atmosphäre netztypischer Kuscheligkeit“. Das Internet habe etwas sehr Dörfliches, ja Stadtteilzentrumhaftes, dafür aber weltweit, vermerkten die Feuilletonisten nach gemachter Erfahrung.

Schweigen im Netz, die Siegerehrung fiel aus

Am Sonntag, dem 14. Juli, war es dann endlich soweit. Das ganze Wochenende hatte die Jury damit zugebracht, die 184 Beiträge zu sichten, und Michael Charlier, charmanter Manager des Wettbewerbs, meldete schon zehn Minuten nach der Entscheidung das Ergebnis:

Erste Preisträgerin ist Martina Kieninger mit ihrem Theaterstück „Der Schrank“ aus Text und ASCII-Grafik, der zweite Preis geht an die „Paralleluniversalisten“ für ihr illustriertes Hypertext-Labyrinth „Waltraut hält die Welt in Atem“, dritter Preisträger ist Olaf Trunschke mit dem Reiseführer „Der Brandenburger Tor“, Ulf Reips darf sich über den vierten Preis für sein „Websonett“ freuen, und der Sonderpreis für Einsender, die sich nicht an die technischen Vorgaben hielten, geht an Sven Stillich für sein Prosagedicht „Verwunschlos“ (alle Siegerbeiträge sind anzusehen unter http://oldenburg.bda.de:800/int/ zeit/littwett/index.html).

Was nun? „Hallo? Ist da jemand?“ Betroffen fragte danach Michael Charlier in der Online- Zeit, wo denn die „Familie“ geblieben sei. Standing ovations hatte man erwartet oder ein Flame-Gewitter – aber doch nicht dieses Schweigen im Walde. Nun, geschwiegen wurde nur auf der öffentlichen Diskussions-Mall, untereinander machten viele TeilnehmerInnen ihrem Ärger spontan per E-Mail Luft. Wer Webdesign für unverzichtbar hält, wird sich mit den kargen ASCII-Grafiken des ersten Preises kaum anfreunden können. Andere vermissen den Internet-Bezug im zweiten, dritten und fünften Preis oder hätten mehr Innovation in der Form erwartet. Auch die Art, in der das Web gewöhnlich genutzt wird, macht es eher schwer, den prämierten Werken gerecht zu werden: Das schnelle Surfen von Site zu Site bei wachsender Telefonrechnung weckt die Erwartung spektakulärer Effekte. Buntes, glitzerndes, bewegtes Webdesign war aber in den engen Grenzen der Vorgaben weder machbar noch erwünscht. Wer sich die Zeit nimmt, die Siegerbeiträge doch anzusehen, dem erschließen sich die eher subtilen Qualitäten der Werke auf den zweiten Blick.

In den „Wortmeldungen“, wie die Diskussionsseite der Online- Zeit jetzt heißt, wird schon darüber debattiert, ob Goethe Java sinnvoll eingesetzt hätte. „Noch nie war es für einen Autor so einfach, dafür zu sorgen, daß es beim Leser KLICK macht“, schreibt Olaf Koch. Die Jury war angetan vom „respektablen handwerklichen Niveau und dem unsentimentalen Grundton der Mehrzahl der Beiträge“. Tatsächlich sei Literatur im Internet möglich, schloß sie daraus, ja sogar ein lohnendes Gebiet. Wer hätte das gedacht!

Im September wird die Jury ihre Entscheidung bei der öffentlichen Preisverleihung im einzelnen begründen. Aber darauf mag die Netzgemeinde nun erst recht nicht warten. Burkard Schnöder (Burkhard Schröder) wirft unter http://www.ipn.de/burks/ thesen.htm) den Internet-LiteratInnen vor, sie hielten entweder die technische Form für eine hinreichende Qualifizierung oder kämen über die Verzierung des Gewohnten mit Hyperlinks und ein paar Bildchen nicht hinaus. Und auch auf der Seite „Wortmeldungen“ ist das Schweigen gebrochen. Es wird weitergestritten: über Literatur, über Technik und über das Netz der Netze – bis zum nächsten Literaturwettbewerb. Claudia Klinger

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