■ Seit Netanjahu Israel regiert, kriselt es in Wirtschaft und Kabinett. Und in der Außenpolitik herrscht Stillstand.
: Pleiten, Pech, Pannen

Würde jemand seinen Briefträger beauftragen, seinen Blinddarm zu operieren, weil der Mann so sympathisch ist? Oder den Milchmann bitten, seine Aktien zu verwalten? Kaum. Aber vor zwei Monaten haben die Bürger Israels etwas Ähnliches getan: Sie haben einen Mann zum Regierungschef bestellt, der auf allen wichtigen Gebieten vollkommen unerfahren ist.

Benjamin Netanjahu – er verbittet sich jetzt offiziell, Bibi genannt zu werden – bekleidete nie zuvor einen wichtigen Posten. Beim Militär war er nur Hauptmann, dann Verkaufsleiter einer Matratzenfabrik, dann Vizeminister (aber praktisch nur Sprecher) bei Jitzhak Schamir. Seine besonders Talent ist es, komplexe Probleme auf einfache Sätze zu reduzieren: Weiß ist weiß (nämlich wir), und schwarz ist schwarz (die anderen).

Das Desaster begann, als Netanjahu beweisen wollte, wie schnell er eine Koalition zusammenbasteln kann. Deshalb erfüllte er so gut wie alle Forderungen der kleinen Koalitionspartner. Zwei religiöse Parteien drohten diese Woche ultimativ mit Rücktritt, weil jede von ihnen das wichtige Religionsministerium beanspruchte. Ein Rücktritt hätte den Sturz der Regierung bedeutet. Der Zwist wurde diesmal irgendwie beigelegt. Aber klar ist: Jeder Koalitionspartner kann die Regierung fast unbeschränkt erpressen.

Nachdem die Zusammensetzung der Koalition feststand, mußte Netanjahu die Likud-Minister ernennen. Um seine hartnäckig befehdeten, innerparteilichen Gegner zu demütigen, zögerte er die Entscheidung heraus. So wußte noch einige Stunden vor der Vorstellung der neuen Regierung in der Knesset kaum jemand, ob er Minister wird und welches Ministerium ihm zugedacht ist. In letzter Minute kam es zu einer beschämenden Krise. Netanjahu stand plötzlich ohne Außenminister da, weil David Levy sich weigerte, ohne den von Netanjahu gefürchteten Ariel Scharon der Regierung beizutreten. Eine Blamage: Netanjahu mußte Scharon zum Leiter des neuen, mächtigen Infrastrukturministeriums ernennen. Statt seine Gegner zu entmachten, hat er das Gegenteil erreicht. Die Achse Levy-Scharon ist nun eine potentielle Opposition im Kabinett. Scharon wird die Siedlungen, wie früher, mächtig vorwärtstreiben, ganz egal, was Netanjahu will.

Ein weiterer wunder Punkt ist: Netanjahu versteht nichts von Wirtschaft, und sein Finanzminister noch weniger. Dan Meridor ist ein populärer Rechtsanwalt, der eigentlich Justizminister werden sollte. Aber Bibi hatte sich verpflichtet, diesen Posten mit einem Rechtsanwalt zu besetzen, der kein Knesset-Mitglied ist, aber der seinerzeit in einem berühmten Familienstreit zwischen Bibi und seiner Frau vermittelt hatte. Also bekam der arme Meridor die Finanzen.

Das hat jetzt katastrophale Folgen. Die Wirtschaft mißtraut der Regierung ohnehin, weil der Friedensprozeß stockt. Die Börse ist zusammengebrochen. Seit vielen Jahren hat Israel keine solche Panik erlebt. Kleine Leute, die ihr Geld in Aktien und Mutual Funds investiert haben, verloren innerhalb von ein paar Tagen ein Viertel ihrer Lebensersparnisse.

Netanjahu ist von den ärmeren Schichten im Lande gewählt worden, aber sein Gott ist Milton Friedman, Privatisierung sein Rezept für alle Übel. Seine Politik trifft gerade seine Wähler am ärgsten: Verteuerung der Medizin und des öffentlichen Transports, weniger Geld für Kinder, weniger Rechte für Pensionäre und entlassene Soldaten. Likud-Politiker, die für die Volksstimmung empfindlich sind, haben bereits angekündigt, gegen diese Pläne zu stimmen.

Und die Außenpolitik? Netanjahus Haltung ist im Kern unerbittlich. Kein palästinensischer Staat, dafür weitere Siedlungen in den besetzten Gebieten. Gewiß gibt es kleine Erleichterungen bei der Abriegelung der Westbank. So dürfen jetzt 10.000 ältere Arbeiter wieder nach Israel.

Aber: Über den Rückzug aus großen weiteren Gebieten im Westjordanland („Zone C“ bezeichnet), der laut Vertrag in diesem Monat beginnen sollte, wird noch nicht einmal gesprochen. Auch nicht über den Beginn der Verhandlungen über den „permanenten Status“ der palästinensischen Gebiete sowie über Jerusalem, Flüchtlinge, Siedlungen, Sicherheit und Grenzen. Und am aktuellsten: Der Rückzug aus Hebron, der schon im Mai hätte stattfinden sollen, ist verschoben, um „über Änderungen des Vertrages“ zu verhandeln. Netanjahu behauptet zwar, auch die Palästinenser hätten den Vertrag gebrochen, aber außer Kleinigkeiten konnte er nichts vorbringen.

Um zu zeigen, daß er doch auf dem Weg zum Frieden vorwärts kommt, hat Bibi den Außenminister Levy, der als etwas gemäßigter gilt als er, zu Arafat geschickt. Der Palästinenserführer, der auch keine Krise vor den amerikanischen Wahlen im November heraufbeschwören möchte, macht vorläufig gute Miene zu Bibis Spiel. Und natürlich wurde bemerkt, daß der Besuch des Ministers bei Arafat eine große symbolische Bedeutung hat – sie widerspricht allen Likud-Parolen und ist praktisch eine Anerkennung der PLO durch den Likud.

Wie wird es weitergehen? Wird Clinton wiedergewählt und dann, in seiner zweiten und letzten Amtsperiode, befreit vom Druck der Pro-Bibi-Lobby, seinerseits Israel unter Druck setzen, um die proamerikanischen arabischen Regimes vor der Gefahr der islamischen Fundamentalisten zu retten? Wird Netanjahu diesem Druck nachgeben, oder wird der Druck der Rechtsradikalen, der Siedler und der ultranationalen Religiösen innerhalb seiner Regierung stärker sein? Kann es zu einer neuen, bei weitem blutigeren Intifada kommen? Wird Assad kriegerische Aktionen erwägen, wenn er versteht, daß Netanjahu die Golan-Höhen wirklich behalten will? Oder wird Netanjahu seine Einstellung im Laufe seines On-the- job-Trainings radikal ändern? Und zum Beispiel die sinnlose, teure israelische Besatzung Südlibanons aufgeben, wie manche glauben?

Das kann heute nur ein Prophet beantworten. Aber die jüdische Tradition sagt, daß seit der Zerstörung des Tempels in Jerusalem anno 70 n.C. nur noch Narren die Gabe der Prophetie haben. Uri Avnery