Der Heilige und die beiden Teufel

Gegen die permanente Doppelherrschaft von Republikanern und Demokraten zieht Verbraucheranwalt Ralph Nader als Kandidat der Grünen in den US-Präsidentschaftswahlkampf  ■ Von Andrea Böhm

Man nennt ihn den „heiligen Ralph“. Oder den „Racheengel der kleinen Leute“, den „David“, der immer einen Goliath findet, an dessen Wade er sich festbeißen kann. Jetzt muß sogar Bill Clinton auf seine Beine aufpassen. Denn Ralph Nader, Amerikas Anwalt der Verbraucher und Dauerfeind von „big government“ und „big corporations“, hat sich von der Grünen Partei als Präsidentschaftskandidat aufstellen lassen.

Nicht, daß der 62jährige Nader Präsident werden wollte oder auch nur den Hauch einer Siegeschance hätte. Nader nimmt keine Wahlkampfspenden entgegen, schüttelt keine Hände, küßt keine Babies, beschäftigt keine Demoskopen, erprobt keine Slogans in Zielgruppentests. Daß seine Kandidatur in diesem Jahr trotzdem mehr darstellt als eine skurrile Fußnote, ist erstens seinem Namen, zweitens dem Bundesstaat Kalifornien und drittens Bill Clinton zu verdanken.

Ralph Nader machte in den USA erstmals Schlagzeilen zu einem Zeitpunkt, da der amtierende Präsident gerade an der Universität zu büffeln begann. 1965 klagte der Juraabsolvent der Harvard- Universität in einem Buch den Autohersteller General Motors (G.M.) an, seinen Chevrolet-Corvair wissentlich mit gefährlichen Mängeln auf den Markt zu bringen. G.M. hetzte dem jungen Juristen einen Privatdetektiv auf den Hals, um mögliche Skandale auszuschnüffeln. Die Strategie erwies sich als Bumerang: Nader klagte auf Verletzung seiner Privatsphäre, kassierte über 400.000 Dollar – und startete mit diesem Geld seine mittlerweile legendäre Bewegung, die zu einem Netzwerk von rund 60 Organisationen herangewachsen ist.

Verbraucher-, Arbeits- und Umweltschutz gehören ebenso zu ihrem Programm wie die Opposition gegen Freihandelsabkommen, eine radikale Reform der Wahlkampffinanzierung, Rotationszwang für Kongreßmitglieder und mehr Volksabstimmungen. Lobbyarbeit im Kongreß, Graswurzel- Kampagnen sowie Zivilklagen gegen Privatunternehmen gehören zu ihren effektivsten Mitteln. 1990 plazierte Life Magazine Nader unter den 100 einflußreichsten US- Amerikanern dieses Jahrhunderts, während Forbes Magazine ihn als PR-gierigen Boß des „Ralph-Nader-Konzerns“ attackierte.

Öko-Aktivisten aus dem Umfeld der US-Grünen in Kalifornien waren die ersten, die Nader letzten Herbst den Titel ihres Präsidentschaftskandidaten antrugen. Inzwischen steht er auch in Hawaii, Oregon, Maine, Colorado, Alaska und New Mexico auf den Wahllisten. In weiteren 30 Bundesstaaten sammeln die Grünen derzeit Unterschriften, um Nader für die Wahl anzumelden.

Nirgendwo dürfte seine Popularität so groß sein wie in Kalifornien – traditionelle Hochburg für Umweltschutzaktivisten, wo man sich über die klägliche Bilanz der Clinton-Gore-Administration in Sachen Ökologie frustriert zeigt. In Umfragen werden dort Nader zwischen sieben und zehn Prozent der Stimmen in Aussicht gestellt. Die könnten am Ende Bill Clinton fehlen. In Kalifornien aber darf nach einem ungeschriebenen Gesetz nicht verlieren, wer Präsident werden will: Als bevölkerungsreichster Staat entsendet es mit 54 Stimmen die höchste Anzahl in das Wahlmännergremium, das am Ende den Präsidenten bestimmt.

Folglich malen Kaliforniens Demokraten potentiellen Nader- Wählern schon jetzt wie weiland die SPD angesichts des Aufstiegs der bundesdeutschen Grünen die vermeintlichen Folgen ihres Tuns aus. „Eine Stimme für Ralph Nader ist eine Stimme für Bob Dole“, warnte Bill Press, Kaliforniens Exparteivorsitzender der Demokraten. „Und das kann Ralph doch unmöglich wollen.“

Letzterer macht kein Geheimnis aus dem, was er will: Die Aussicht, auf Clintons Kosten Stimmen zu holen, schreckt ihn nicht. „Alle vier Jahre wird die Wahl zwischen dem größeren und dem kleineren Übel immer schlimmer.“ Der amtierende Präsident, den Nader in „George Ronald Clinton“ umgetauft hat, „wäre in den 70er Jahren nicht einmal als liberaler Republikaner durchgegangen. Irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem die Bürger keine Wahl mehr haben, an dem das Land von einer Partei in den Diensten der Privatwirtschaft dominiert wird – einer Partei mit zwei Köpfen: einem demokratischen und einem republikanischen.“ Es sei Zeit für eine massive Protestwahl.

Tatsächlich bietet Bill Clinton dem grünen Spitzenkandidaten immer mehr Angriffsfläche mit seiner Strategie, möglichst viele programmatischen Punkte der Republikaner zu besetzen und als moderate Gegenposition zum „Gingrich-Extremismus“ zu präsentieren. Und obwohl Nader eigentlich keinen Wahlkampf führt, findet er in der US-Presse dank seines Bekanntheitsgrades offene Ohren, Sendezeit und Platz für Gastkommentare gegen das „Duopol“ der beiden großen Parteien.

Kevin Phillips, renommierter konservativer Autor und Experte des Parteiensystems in den USA, räumt dem Verbraucheranwalt gute Chancen ein, „weil mittlerweile über 60 Prozent aller US- Amerikaner in Umfragen sagen, daß sie eine dritte Partei wollen.“ Ross Perots Achtungserfolg bei den Wahlen 1992 – ausschlaggebend für den Sieg Bill Clintons – war ein deutliches Warnsignal. Nader, so glaubt Phillips, könnte Perot jetzt beerben, „weil er aufgrund seiner Bekanntheit enorm viel Aufmerksamkeit bekommt – und sich möglicherweise sogar in die TV-Debatten der Kandidaten hineindrängen kann.“ Allerdings, so Phillips, müsse Nader schnell aus seiner symbolischen Kandidatur eine „professionelle, landesweite Kampagne“ machen.

Dazu ist der „heilige Ralph“ aber (noch) nicht bereit. So könnte er am Ende in die Wahlgeschichte als kauziger Prinzipienreiter eingehen, der weder Auto noch Kreditkarte besitzt und der sich weigert, seine alte Schreibmaschine gegen einen Computer einzutauschen. Nader selbst sieht seinen Wahlkampfstil als eine Herausforderung an die „progressive Basis“ in den USA, von prominenten Kandidaten unabhängige „Muskeln“ zu entwickeln. 1996, so glaubt er, sei dafür erst der Anfang.