Zwischen den Rillen
: Waldorfschule des Herzens

■ Lokal grooven, global produzieren: Weltpop mit Loophole und Bim Sherman

Eine Musik wird Volksvertretung, vor zwei Wochen versammelten sich 750.000 Menschen an der Berliner Siegessäule. Mit Techno ist die Projektkultur in Disco übergegangen: Dancefloor eignet sich viel besser als die großen Bürgerbewegungen (Brokdorf, Mutlangen, Leipzig) fürs Bündnis. Die Voraussetzungen dieser soften Utopie sind ihre technischen Finessen. Songs lassen sich zwecks kollektiver Gestaltung wie alle ande

Duldsamkeit des „Simple Life“: Bim Sherman Foto: Cover

ren Daten aus den Studios von New York etwa nach Brüssel überspielen und die gleichen Tracks je nach Präferenz und Standort in London als Jungle- Remix oder in Berlin als Tribal Trance präsentieren. Alles erhält einen lokalen Beat. So hören sich Goldie, Björk und selbst Everything but the Girl überall auf der Welt ganz unterschiedlich an.

Bei Loophole sind die zwölf Stücke ihres Debüts „t.o.t“ nicht einmal mehr auf diese oder jene clubspezifischen Feinheiten zugeschnitten. Statt dessen blubbert es allumfassend und fast schon wieder wie Pop. Breakbeats brummeln unter schmucken Samples aus alten Quincy- Jones-Hits, rauschende Kurzwellenfrequenzen geistern mit Schweineorgelmelodien auf Love-Unlimited-Streichern dahin, die Stimme klingt mal rockistisch nach Lenny Kravitz und dann wieder nach sanftesten Seidenlaken.

Obwohl das Ganze als Verschnitt aus psychedelischem Badelatschen-HipHop, Gospel, Ambient, Sex und Drum & Bass daherkommt, steht ein deutscher Diskursmusiker hinter der Sache. Andi Toma gehört zum Düsseldorfer Analog-Techno- Duo Mouse on Mars, ansonsten programmiert er gern abstrakte Electro-Beats. Loophole nun ist eine Gemeinschaftsproduktion mit dem Hardcore-Junglisten Raoul Walton aus der Bronx.

Die beiden begleiten mit schweren Massive-Attack- Sounds einen sich durch Soullinien arbeitenden Wuschelkopf namens Dominique Nkishi, der stets von göttlicher Liebe singt oder von Angst und vom All. Dann muß auf „We can try“ das biblische „Cain slew Abel“ mit allerlei Schluchzern beglichen werden; oder auf „Closer to Reality“, der aktuellen Single, heißt es: „Isn't the stuff which everything is made of, essentially intelligent vibration? Why then, is the essence of education not love?“ Dazu sieht man im Video Tai-Chi-Übungen und verdrogt blaue Farben vor der Fischaugenkamera vorbeifließen.

Toma sieht diese Art Waldorfschule des Herzens jedoch weit theoretischer, wenn er über Ambivalenzen schreibt, die sich in den Songtiteln widerspiegeln: „Das Lebendige in der Musik wird profanisiert, indem es in die gepreßte, starre Form des Tonträgers gemeißelt wird, woraufhin es beliebig reproduzierbar, aber nicht mehr veränderbar ist.“ Und alle Waren transzendieren ... – lesen wird solch ein Kauderwelsch aus Marx, Mumien und Mutationen auf der Tanzfläche natürlich eh wieder kein Schwein.

Interessanterweise finden sich auch auf dem Londoner Alt-Industrial-Label On-U- Sound immer mehr groovende Gläubige – allen voran der Old- School-Rastafari Bim Sherman. Drehten sich seine Platten zwischenzeitlich um „Exploitation“ und „Reality“, so liegt „Miracle“ wieder ganz auf dem Religionskurs der „100 Years in Babylon“ aus den frühen siebziger Jahren. Doch die Musik hat sich weit vom Reggae weg in Pop, Bluegrass, indische Filmsounds und Weltmusik verwandelt – vollgesogen wie eine futuristische, aber sehr freundliche Biomasse.

Selbstverständlich driftet Sherman auf Tablas, Reggae- Bässen und den Streichern des Studio Beats Orchestra Bombay dahin. Mit leichter Hand werden Country-Melodien adaptiert, zwischen Slide-Gitarre und Sitar hin- und hergespielt, um sie zuletzt wie Blüten im Wind verwehen zu lassen. Zurück bleibt eine merkwürdige Mischung aus Volksmusik und Singer/Songwritertum, wobei Sherman bis an den Rand des Kitsches die Duldsamkeit des „Simple Life“ predigt. Immer wieder liegt die Zukunft irgendwo „Over the Rainbow“ oder über den Wolken.

Dabei läßt sich selbst diese naturbelassene Folklore inzwischen unter so hochtechnischen Bedingungen produzieren, wie man es bisher nur von Techno gewohnt ist. Adrian Sherwood bekam ein DAT-Tape aus Bombay zugeschickt, „alles, was ich noch zu tun hatte, war, ein paar Geräusche und Percussions abzumischen“. Am Ende führt das multikulturelle Netzwerk auf „Miracle“ direkt zum heiligen Geist, für den Sherman seine Weisen singt – vielleicht auch, weil sich die daran beteiligten Musiker im Studio gar nicht mehr begegnen. Daß jeder dabei eine gute Zeit haben kann, hängt mit den Vibes zusammen: „Wir spielen sowieso nur, was uns gefällt.“ Harald Fricke

Loophole: „t.o.t.“ (Amber; Polydor)

Bim Sherman: „Miracle“ (On- U-Sound; EFA)