Indiens Angst vor guten Ernten

Während das Landwirtschaftsministerium nicht weiß, wohin mit den Überschüssen, hat ein Drittel der Bevölkerung nicht genügend Nahrung  ■ Aus Delhi Bernard Imhasly

Gott! Nicht schon wieder ein guter Monsun!“ reagierte das indische Landwirtschaftsministerium, als die Wetterpropheten im vergangenen Jahr zum sechsten Mal hintereinander einen Sommer voller Regengüsse voraussagten. Das würde eine neue Rekordernte bedeuten, und niemand wüßte, wohin mit den Überschüssen.

Und in der Tat, der Monsun fällt dieses Jahr allzu üppig aus. Neben guten Ernten verursacht der Regen dabei in Nordindien und Bangladesch jedes Jahr Millionenschäden. In Bangladesch starben in den in den vergangenen zwei Wochen mindestens 90 Menschen durch die Wasserfluten. In der Hauptstadt Dhaka sind zwei Millionen Menschen durch das Wasser in ihren Häusern eingesperrt, 26.000 wurden bereits evakuiert. In der nordindischen Provinz Assam kamen ebenfalls 100 Menschen durch die Folgen des Monsuns ums Leben. Zwei Millionen Menschen sind dort obdachlos.

Schon letztes Jahr hatte der gute Monsun dem Landwirtschaftsministerium große Probleme bereitet: 192 Millionen Tonnen Getreide Jahresernte, und in den Vorratslager stauten sich 35 Millionen Tonnen. Tausende Säcke mußten unter Kunststoffplanen im Freien aufgetürmt werden. Die einzigen Retter waren die Nager und die Fäulnis, die bis zu zwanzig Prozent Getreide vernichteten.

Das starke Wachstum der Getreideernten hat Indien zu einem Exporteur gemacht. Es liefert Reis und Weizen nach Vietnam, in den Mittleren Osten und nach Äthiopien. Vor 30 Jahren mußte Indien zum letzten Mal Lebensmittel aus den USA importieren. Seitdem hat sich der Output verdreifacht, und Indien könnte in einigen Jahren größter Nahrungsmittelproduzent vor den USA und China sein.

Dazu beigetragen hat die „Grüne Revolution“. Sie begann 1966 im nordindischen Punjab und hat das Land revolutioniert. Zwar ist die Landwirtschaft immer noch abhängig von guten Niederschlägen, aber Hektarerträge und Produktion haben sich vervielfacht: 1947 produzierte das Land gerade sechs Millionen Tonnen Getreide. Dank Kunstdünger wuchsen die resistenten hybriden Setzlinge auch in unfruchtbaren Böden, und teure Bewässerungskanäle und Pumpen sicherten gute Ernten.

Allerdings führte die intensive Nutzung der Böden zu einer Konzentration des Landbesitzes, da sich der kapitalintensive Einsatz von künstlicher Bewässerung, Dünger und Pestiziden in kleinen Parzellen nicht rechnete. Trotz Subventionen mußten daher viele Bauern ihre durchschnittlich 0,3 Hektar großen Grundstücke verkaufen. Parallel zur Produktion wuchs so auch ein ländliches Proletariat von ehemaligen Bauern heran, die sich als Tagelöhner verdingen mußten.

Die Proletarisierung der ländlichen Bevölkerung durch die Grüne Revolution versteckt sich hinter dem raschen Wachstum des landwirtschaftlichen Gesamteinkommens. Bei schlechten Ernten fällt für die Wanderarbeiter der Lohn einfach aus. Daher machen die absolut Armen – jene Menschen, die sich weder genügende Nahrung noch Kleidung und Wohnung leisten können – trotz der vollen Lagerhäuser noch immer eine Drittel der Bevölkerung aus. Der indische Ökonom Amartiya Sen definiert Hunger deshalb nicht als mangelnde Nahrungsproduktion, sondern als fehlende „Berechtigung der Armen“, Nahrung zu erwerben. Da sie das Produktionsmittel Boden verloren haben, bleibt ihnen nur ihre Arbeitskraft. Und falls diese nicht benötigt wird, hungern sie.

Der Preis der Grünen Revolution war nicht nur ein sozialer. Durch intensive Düngung und Bewässerung ist die Bodenfruchtbarkeit abgesunken. Mikronährstoffe wie Schwefel und Zink, so zeigte eine Studie der FAO, gingen zurück, so daß die Bodenkruste versalzte und verkümmerte. Dies macht sie anfällig für Boden- und Wintererosion und führt zum Absinken des Grundwasserspiegels. Die Monokultur machte die Saaten zudem anfällig für Plagen, die noch mehr Pestizide forderten. Erst in den achtziger Jahren erfolgte ein Umdenken. Die Bauern führten wieder Fruchtwechsel ein und ließen die Felder ein bis zwei Erntezyklen brachliegen.

Der Erfolg der Grünen Revolution basierte wesentlich auf dem Einsatz von ertragreichen, im Labor gezüchteten Saaten. Dies führte dazu, daß einheimische genetische Stämme ausstarben. Indien hat, so schätzt das Internationale Reisforschungsinstitut in Manila, etwa 40.000 Reissorten, die auf das Mikroklima einer kleinen Region abgestimmt sind. Diese Sorten wurden im Verlauf der letzten dreißig Jahre zunehmend an den Rand gedrängt. Die neuen Sorten ergaben bessere Erträge, weil ihre Züchtung auf die mitgelieferten Düngemittel-Inputs abgestimmt worden waren. Der Staat, begierig, die Gesamtproduktion hochzufahren, förderte einseitig die ertragreichen Sorten. Noch heute erhalten Baumwollbauern nur dann billige Saatkredite, wenn sie dafür Kunstdünger kaufen.

Es gibt allerdings auch positive Seiten: Indien ist nicht mehr genötigt, bei anderen Ländern betteln zu gehen, um Hungersnöte zu vermeiden. Die erhöhte Produktivität verhindert auch, daß natürliches Ödland und Wälder unter den Pflug kamen.

Und auch für die Zukunft gibt es keine Alternative zur erhöhten Produktivität: Sonst wird Indien im Jahr 2030 40 Millionen Tonnen Getreide einführen müssen. 40 Prozent der Landfläche werden jedoch noch immer nicht künstlich bewässert, und die Bauern sind auf den Monsun angewiesen, um genügend zu ernten. Die Einsicht einer notwendigen Erhaltung der Biodiversität hat zumindest dazu geführt, daß das böse Wort, die „Green Revolution“ sei eine „Greed Revolution“, heute nicht mehr gilt.