Die Türkei schafft neue Märtyrer

■ Regierung in Ankara gibt nicht nach: Gestern starben erneut drei politische Gefangene an den Folgen des landesweiten Hungerstreiks. Abgeordneter des Europaparlaments fordert EU auf, weitere Finanzhilfen zu sperren

Istanbul/Berlin (taz) – Das Sterben in den türkischen Gefängnissen geht weiter. Am gestrigen 67. Tag des landesweiten Hungerstreiks politischer Gefangener starben drei Häftlinge. Die Zahl der Opfer erhöhte sich damit auf sechs. Neue Todesfälle können jederzeit eintreten. Insgesamt befinden sich über 1.500 Gefangene im Hungerstreik. Rund 300 sind im „Todesfasten“; sie nehmen weder Wasser noch Zucker und Salz zu sich.

Oppositionsparteien, zahlreiche Berufsverbände, prominente Künstler und Schriftsteller richteten erneut Appelle an die Regierung, auf die Forderung der Gefangenen einzugehen. Diese verlangen die Rücknahme einer Verfügung des Justizministeriums, die die Haftbedingungen verschlechterte. Doch Justizminister Sevket Kazan von der islamistischen Wohlfahrtspartei verweigert sich jedem Kompromiß. „Wir möchten keine Einigung. Wir möchten, daß die Gefangenen ihren Hungerstreik beenden“, erklärte Kazan, der gestern mit Ministerpräsident Necmettin Erbakan nach Istanbul reiste, um an einer Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates teilzunehmen. Kazan drohte, weitere, bereits zugestandene Rechte einzuschränken, falls der Hungerstreik fortgeführt wird. Nachdem die gestrigen drei Todesfälle bekanntgeworden waren, äußerte sich auch Außenministerin Tansu Çiller: „Ich bin glücklich, Ihnen mitteilen zu dürfen, daß der Staat die Menschenrechte und die Rechte der Gefangenen achtet.“

Doch nach sechs Toten herrscht Aufruhrstimmung in der Öffentlichkeit. Landesweit kam es gestern zu Protesten. Viele Demonstranten feierten die Toten als Märtyrer. Auch zwei Anschläge in Gebze und Istanbul auf Polizeiautos, bei denen ein Polizist starb, stehen vermutlich in Verbindung mit dem Hungerstreik.

Auch in Deutschland mehren sich Proteste gegen die unnachgiebige Haltung der türkischen Regierung. Gegenüber der taz kündigte der SPD-Europaabgeordnete Jannis Sakellariou an, er werde verlangen, der Türkei im Rahmen der Zollunion die von der EU zugesagten Finanzhilfen zu sperren. Die Parlamentarische Versammlung des Europarats erwägt, eine Beobachterdelegation zu entsenden. Es gebe Verhandlungen mit den türkischen Stellen über die Möglichkeiten einer Visite, teilte die Präsidentin der Versammlung, die deutsche CDU-Abgeordnete Leni Fischer, mit. Sie sei „tief schockiert“ über den Tod der Häftlinge. Die Vorstandssprecherin der Bündnisgrünen, Krista Sager, kritisierte Bundesregierung und Nato. Aus wirtschaftspolitischem Opportunismus hielten sich diese mit Kritik an der Türkei zurück. PDS-Chef Lothar Bisky forderte Bundeskanzler Helmut Kohl auf, gegen die „skandalösen Haftbedingungen“ in der Türkei zu protestieren.

öe/taud Seiten 8 und 10