Trieb und Sexualleben

Teil 4: Fortpflanzung nach dem Kuckuckseiprinzip bei der Ethnie der Hanse-Poliker  ■ Von Silke Mertins taz-Serie: Die Stammesriten der Bürgerschaft

Sexuelle Begehrlichkeiten sind bei der Ethnie der Hanse-Politiker triebunterdrückenden Reglementierungen unterworfen. Namhafte EthnologInnen vertreten die Auffassung, daß die normative Lustfeindlichkeit mit der biologischen Unfruchtbarkeit zusammenhängt. Denn die Bürgerschaftler (Eigenbezeichnung) können sich nicht selbständig fortpflanzen, um den Stamm zu erhalten. Nachwuchs muß aus fremden Ethnien rekrutiert werden. Unter Fachleuten wird diese ungewöhnliche Form der Vermehrung mit einem Begriff aus der Tierwelt illustriert, dem Kuckuckseiprinzip. Soll heißen: Die Bürgerschaftler stammen aus verschiedenen Nestern, was auch ihr unterschiedliches Aussehen erklärt. Die Beispiele Ingo Kleist und Henning Voscherau, die sogar zur selben Sippe („rechte SPD“) gehören, können hierbei als Beleg herangezogen werden.

Zum Zwecke der Vermehrung werden auf Treffen (Eigenbezeichnung: Parteitage) Fruchtbarkeitstänze aufgeführt. Dabei tänzeln hochrangige Stammesmitglieder vor einer Art Kanzel, um möglichst gut geratenen Nachwuchs zu umwerben. Ist das Balzverhalten erfolgreich, können neue Stammesmitglieder in die Bürgerschaft aufgenommen und die älteren ausgestoßen (Eigenbezeichnung: Pensionierung) werden. Für die Fortpflanzung ist jeder Clan selbst verantwortlich. Gemeinsam ist allen die ausgeprägte Sorge um den Nachwuchs.

Das Sexualleben des Bürgerschaft-Stammes im engeren Sinne ist demnach nicht an Fortpflanzung und Fruchtbarkeit gebunden, sondern dient ausschließlich der Lustbefriedigung. Das Streicheln des Rednerpultes, die phallusartige Lautsprechervorrichtung (Eigenbezeichnung: Mikrophone) und das ausgiebige Schulterklopfen insbesondere der männlichen Stammesmitglieder seien Ausdruck sexueller Frustration, lautet eine von der herrschenden Lehre abweichende Meinung. Diese Auffassung wird von der Autorin ausdrücklich nicht geteilt.

Frust kann allerdings schon entstehen, weil clan-übergeifende sexuelle Handlungen ein Tabu darstellen. Wer dem Clan der „SPD“ angehört, darf sich keinesfalls mit einem Mitglied der „GAL“ bei sexuellen Handlungen erwischen lassen. Diese strenge Endogamie (Eigenbezeichnung: Fraktionszwang) kann nach dem neuesten Forschungsstand als eine Form der Kreuzcousinenheirat verstanden werden, die von vielen Ethnien wegen der Vertrautheit von Kindheit an und aus erbschaftsbedingten Gründen bevorzugt wird.

Die Triebenthaltsamkeit fällt den Hanse-Politikern durchaus nicht immer leicht. Passiert ein Malheur, bemühen sich beide Clans um Schadensbegrenzung und versuchen, die beiden Tabubrecher zu trennen. Zunächst argumentativ („mit seinen vorsintflutlichen Ansichten und kontraproduktiven Überzeugungen wirst du nie leben können“), dann eindringlich („Junge, denk' an deine Karriere“) und schließlich autoritär („warte, bis ich's dem Bürgermeister sage“). Meistens wirkt das. Derzeit ist keine exogame Beziehung unter den Bürgerschaftlern bekannt.

Die tabuisierte Exogamie hat eine funktionalistische Komponente: Sie soll die Erotik der Macht bündeln und die Beziehungen zwischen den Clans prickelnder gestalten. Die rituellen Beschimpfungen (Eigenbezeichnung: Debatten) fallen bei unerfüllten sexuellen Wünschen nämlich leidenschaftlicher aus; erotische Energie kann kanalisiert werden und sich in flammender Wortgewalt entladen. Das sexuelle Potential kommt so dem ganzen Stamm zugute, statt sich in durch Gewöhnung bagatellisierte Beziehungen zu verschleißen.

Am nächsten Sonnabend in Folge 5: Initiationsriten und Beschneidung