: Wortklauberei gegen Schadenersatzbegehren
■ UKE-Skandal: Behörde geht in Berufung gegen Urteil über Brustkrebs-Behandlung
Die Wissenschaftsbehörde hat gestern gegen das Urteil des Hamburger Landgerichtes im Fall einer ehemaligen Brustkrebspatientin des UKE Berufung eingelegt. Das Gericht hatte am 21. Juni mit der Begründung, die Ärzte hätten das Selbstbestimmungsrecht der Patientin verletzt, die Stadt als Trägerin des UKE zur Zahlung von Schadenersatz und Schmerzensgeld verurteilt.
UKE-Professor Hans-Joachim Frischbier hatte die Frau 1989 in der Gynäkologischen Radiologie mit ungewöhnlich hohen Einzeldosen bestrahlt. Im Gegensatz zur allgemein üblichen Behandlung mit wöchentlich fünfmal 2,0 Gy bestrahlte Frischbier seine Brustkrebs-Patientin mit viermal 2,5 Gy in der Woche.
Die 3. Zivilkammer des Landgerichts war der Auffassung, daß die Patientin über ein möglicherweise erhöhtes Nebenwirkungsrisiko hätte aufgeklärt werden müssen. Es habe zum Zeitpunkt der Bestrahlung „ernsthafte und unwiderlegte Stimmen in der medizinischen Wissenschaft“ gegeben, die davor warnten, daß Frischbiers Therapie ein größeres Risiko berge. Zu diesem Schluß kam Richter Detlev Timmermann nach dem Studium der medizinischen Fachliteratur. Die Lesart der Wissenschaftsbehörde erklärte gestern deren Juristin Jutta Krüger: Mit Frischbiers Bestrahlungsdosen sei „keine Risikoerhöhung verbunden“ gewesen.
Auch um die Aufklärungspflicht der Ärzte ist ein Streit entbrannt. Dem Gericht zufolge hatte Frischbier seine Patientin unzureichend über Risiken der Behandlung und über Alternativen aufgeklärt. „Wo fängt die Aufklärungspflicht an?“ will dagegen Juristin Krüger Grundsätzliches klären. Frischbiers Bestrahlungsdosis sei nämlich keine „Alternative“ zur gebräuchlichen Behandlung gewesen, sondern nur eine „Variante“ im Bereich der medizinischen Standarddosen für Strahlentherapie bei Brustkrebs. Wortklauberei könnte man meinen. Die Wissenschaftsbehörde dagegen fürchtet, das Urteil werde eine Art Revolution im Sprechzimmer auslösen. „Wir kriegen hier eine neue Definition im Arzt-Patient-Verhältnis“, so Krüger. Motto: Wo kämen wir denn da hin, wenn Ärzte über jede Variation einer Standardbehandlung aufklären müßten?
Und Wissenschaftssenator Leonhard Hajen sieht gar die „Therapiefreiheit der Ärzte“ in Gefahr, die bisher innerhalb der Standards machen durften, was sie wollten, ohne den Patienten über Risiken informieren zu müssen. Der Senator warnte die Patienten vor „amerikanischen Verhältnissen“. In dortigen Praxen führe eine „Risikoauslese“ der Patienten dazu, daß Ärzte risikoreiche Behandlungen von vornherein ablehnten.
Mit der Frage, wann die ärztliche Aufklärungspflicht beginnt und wann ein Arzt wegen unterlassener Aufklärung haftbar gemacht werden kann, wird sich als nächste Instanz das Hanseatische Oberlandesgericht befassen. Vera Stadie
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