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Die Zeit der Klassenkampf-Parolen ist dahin

■ Quo Vadis, Gewerkschaft? Über die Rolle der ArbeitnehmerInnen-Vertretungen in einer Gesellschaft im Umbruch. von Brigitte Dreyer

er die Diskussion der vergangenen Monate um den Wirtschaftsstandort Deutschland und die sozialen Sicherungssysteme für die BürgerInnen verfolgt hat, konnte zeitweise staunen, war immer mal wieder verblüfft, und mit Sicherheit gab es einige Zornesausbrüche vor so viel gesprochenem und geschriebenem Unsinn. Die Beteiligten dieser Diskussion: GewerkschaftsfunktionärInnen, PolitikerInnen, Unternehmensfunktionäre, Arbeitgeberpräsidenten, JournalistInnen und Leute, die durch jede Talkshow tingeln und zu jedem Thema ratschen.

Und die Arbeitslosen, also diejenigen, die vom Arbeitsprozeß und damit auch häufig von gesellschaftlichen Prozessen ausgegrenzt sind; die ArbeitnehmerInnen, die letztendlich über Steuern alles und jedes zu finanzieren haben; der vielbeschworene „kleine Mann“ und die manchmal auch benannte „kleine Frau“? Sie kommen nicht zu Wort. Sie werden zu Objekten, mal für zu fördernde staatliche Hilfsprogramme, mal für die gerne beschworene politische und gewerkschaftliche Solidarität, mal für Spardebatten.

Es mutet schon merkwürdig an, daß Unternehmens- und Arbeitgeberverbände mit Elan und lang vermißter Energie gemeinsam den Standort Deutschland zerreden. Anscheinend hat sich der Standort Deutschland fast über Nacht mit ArbeitnehmerInnen ausgestattet, die alle unverdient hohe Löhne mit nach Hause tragen, ständig im Urlaub sind und/oder (schein-)krank dem Arbeitsplatz fernbleiben und selbstverständlich alle nur ihr Recht kennen, doch angeblich von Verantwortung und Motivation noch nie etwas gehört haben. Wo bleibt eigentlich die gesamtgesellschaftliche Verantwortung der Unternehmer? In Hongkong und Taiwan wird das Geld verdient und Steuern bezahlt; in Deutschland werden die Kinder beschult und die Autos über die von ArbeitnehmerInnen bezahlten Straßen gerollt.

Das klang vor kurzer Zeit alles noch anders. Da wurde der Mensch im Betrieb zur Human Ressource, Managementkurse beschäftigten sich mit Leadership und Partnerschaft, stellten dabei das Personal, deren Teamfähigkeit, Kreativität und den Leistungswillen des Einzelnen in den Mittelpunkt des Geschehens.

Seltsam mutet es auch an, wenn die Gewerkschaften zum kraftvollen Marsch nach Bonn aufrufen, weil noch mehr Arbeitslosigkeit, soziale Ungerechtigkeit und Armut drohen. Vielleicht lag es an tausenden fröhlicher Luftballons, an hunderten bunter Fahnen, dem herrlichen Wetter, den flauen Reden, dem abwechs-lungsreichen Kulturangebot? Die Demo erinnerte an ein fröhliches Happening, zu dem vierhunderttausend gutgelaunte Menschen gekommen waren. Von Angst und Sorge, vom Kampfeswillen und neuen Ideen war wenig zu spüren.

Und die Politik? Die einen schneidern ein Programm zum Sparen, für mehr Beschäftigung – und müssen mehrmals nachbessern. Warum? Wurde das nicht sauber überlegt, nicht alle Konsequenzen erwogen und die Folgen kalkuliert? Die anderen sagen einfach und kategorisch: NEIN! Perspektiven werden allerdings keine genannt. Da verläßt man sich lieber auf die Bunkermentalität, verweigert sich ganz einfach. Doch so einfach ist das leider nicht.

Es ist eine Tatsache, daß wir im globalen Wettbewerb stehen. Das sich entwickelnde globale Wirtschaftsgefüge kann aber nicht heißen, daß in Deutschland die Löhne der Staaten in Osteuropa, Indien oder Asien gezahlt werden könnten. Wer soll damit denn die Konsumgüter kaufen? Wenn ArbeitnehmerInnen keine Autos oder Fahrräder, Kühlschränke oder Fernseher, Urlaubsreisen oder Campingwagen kaufen können, wird sich die Arbeitslosigkeit rasant und explosionsartig entwickeln, der Standort Deutschland sich massiv verschlechtern, das Steueraufkommen sich unvorstellbar dezimieren. Wer kann das ernsthaft diskutieren? Wo bleibt die Nachdenklichkeit darüber, daß die Demokratie, der soziale Frieden, die Freiheit mehr als nur ein wenig Schaden nehmen werden? Wo bleibt die Auseinandersetzung mit der Frage, daß ein „starker Mann“ mit „Führerqualitäten“ und den alten Kochrezepten auftaucht, dem die Menschen zuhören und vielleicht nachlaufen werden? Aus Verzweiflung: denn die ist der Nährboden für Dummheit und Schrecken. Dann ist Schluß mit lustig!

Es ist Fakt, daß die sozialen Sicherungssysteme an mehreren Punkten an ihre Leistungsgrenzen stoßen. Da müssen wir umbauen, müssen neu gestalten. Doch bitte mit Augenmaß und dem Willen, einen breiten gesellschaftlichen Konsenz zu finden. Wir werden nicht einfach die Schraube weiter aufdrehen können, denn letztendlich zahlen die ArbeitnehmerInnen, zusätzlich zur Lohn- und Einkommenssteuer, dann noch 40 Prozentpunkte für Kranken-, Arbeitslo-sen-, Renten- und Pflegeversicherung. Das ist niemandem zuzumuten, erst recht nicht der kommenden Generation. Das befördert die Schwarzarbeit: Arbeitgeber wie ArbeitnehmerInnen werden die Sicherungssysteme meiden. Wir steuern dann sehenden Auges in einen Generationenkonflikt, der die sozialen Sicherungssysteme (die auf dem Generationenvertrag fußen) in sich zerstört.

Es ist wohl richtig, daß das Engagement des Einzelne für das Gemeinwesen sich anders als bislang gestaltet. Die großen Massenorganisationen leiden unter Mitgliederschwund, haben Nachwuchssorgen, beklagen schwindene Solidarität. „Das liegt an der Individualisierung der Gesellschaft“: ist die gängige Erklärung. Doch ist das wirklich so, wenn wir an die vielen Bürgerinitiativen, an die Frauenbewegung, das breite Engagement für Umweltthemen denken? „Die großen gesellschaftlichen Organisationen müssen sich ändern“ wäre eine bessere Antwort, die einen neuen Prozeß der Veränderungen einleiten könnte.

Was heißt das alles für die Zunkunft der Gewerkschaften? Ganz bestimmt müssen wir die Flinte nicht in's Korn werfen. Die Arbeitnehmerorganisationen in der Bundesrepublik werden weiterhin wichtige Aufgaben haben und diese auch wahrnehmen müssen. Doch anders als bisher.

Die Klassenkampftheorien gehören lange der Vergangenheit an. Sie wurden auch nicht von allen Gewerkschaften, und längst nicht von allen Mitgliedern akzeptiert und getragen. In den 70er Jahren schrieb der Jesuitenpater Nell-Breuning sinngemäß: „der Klassenkampf der Zukunft wird nicht mehr zwischen Proletariat und Kapital stattfinden, sondern zwischen Arbeitsplatzbesitzenden und denjenigen, die keine Arbeit mehr haben.“ Er hat recht behalten.

Nicht nur deshalb greifen die Denkschablonen von „Die da oben und wir hier unten“: nicht mehr. Auch die guten Jahre für die Gewerkschaftsfunktionäre sind erstmal vorbei, in denen wir vor Tarifverhandlungen 10% gefordert und mit einer 6 vor dem Komma nach Hause gekommen sind. Die wirklich wichtigen Themen von sozialen Absicherungen der ArbeitnehmerInnen, Arbeitsschutzgesetze, Arbeitszeitregelungen, Mutterschaftsschutz, Nacht- und Wochenendzulagen sind geregelt. Nun kann man hier oder da natürlich noch Verbesserungen anbringen, doch die großen Themen sind abgearbeitet. Hier haben die organisierten ArbeiternehmerInnen durch ihre Beitragszahlungen für die jeweilige Organisation, durch persönliche Einkommenseinbußen in Streikzeiten und einem hohen Einsatz an Engagement ihren Platz in der „Halle des Ruhms“ wirklich verdient erworben. Das bestreitet heute auch keiner mehr ernsthaft.

Doch was tun, ohne die Chance auf hohe Lohnabschlüsse, ohne Klassenkampf? Es gibt eine Fülle von Herausforderungen, denen wir uns stellen und für die wir einen breiten gesellschaftlichen Konsens mit organisieren müssen.

Stichwort:Regulierung/ Deregulierung

Die Bundesrepublik weist eine Reglementierungsmentalität auf, die sich in einer Fülle von Gesetzen, Vorschriften, Anweisungen, Bestimmungen, Ge- und Verboten soweit verästelt und mit einer wirklichen Liebe zum Detail festgelegt hat, daß notwendige Innovationen, als richtig erkannte Veränderungen, sogar kleine Kurskorrekturen nicht nur ein erhebliches Maß an bezahlter Arbeit binden (den Faktor Arbeit also immer weiter verteuern), sondern auch derartig zeitintensiv sind, daß Innovationen und kreative Konzepte solange durch die Mühlen gedreht werden, bis sie es eben nicht mehr sind, bis andere uns längst überholt haben. Doch der Glaube der Parteien, einzelner Gruppen und vielleicht auch der Gewerkschaften, daß viele Regeln auch Gerechtigkeit für jeden Einzelnen bringen, ist leider ungebrochen. Wir regeln uns gemeinschaftlich nicht nur in eine starre Unbeweglichkeit, sondern wir strangulieren unseren Standort und damit uns selbst.

Um Mißverständnissen vorzubeugen: selbstverständlich muß es Gesetze geben, die das Miteinander regeln. Und selbstverständlich muß ein Rechtsstaat auf die Einhaltung der Gesetze achten. Noch wichtiger: der Bürger und die Bürgerin müssen Rechtsmittel haben und diese auch ausschöpfen können. Selbstverständlich müssen wir unsere natürlichen Lebensgrundlagen schützen, müssen Flora und Fauna ihren Lebensraum erhalten. Und selbstverständlich müssen Minderheitenrechte geschützt werden. Darum geht es nicht. Doch muß denn alles so kompliziert sein? Brauchen wir diese Regelungsdichte wirklich? Darf es nicht auch mal ein bißchen weniger sein? Das sind Fragen die für unsere Wettbewerbsfähigkeit immer wichtiger werden, also für die Zukunft unseres Wirtschaftsstandortes, für Arbeitsplätze und Existenzsicherung, für uns alle. Wir können es nicht einfach hinnehmen, daß die Beantragung einer Betriebs- und Baugenehmigung Monate und Jahre dauert, wertvolle Arbeitszeit verschlingt, Unternehmen sich einfacher (und damit schneller) in den europäischen Nachbarstaaten ansiedeln können, in die USA und Asien abwandern.

Stichwort: Schuldenspirale und Steuerbelastungen

Staatsquote, Abgabenhöhe und die besorgniserregenden Schulden in Bund, Ländern und Gemeinden machen uns klar: wir leben über unsere Verhältnisse und das bekommt uns allen nicht. Die Steuern in Deutschland sind zu hoch, das Steuersystem so ausdifferenziert und auf den Einzelfall bezogen, daß aus der gewünschten Steuergerechtigkeit eine massive Ungerechtigkeit erwachsen ist. „Runter mit den Steuen, weg mit Subventionen“: könnte hier die gewerkschaftliche Forderung lauten. Der beliebte Einwand, was denn wohl aus der Fahrtkostenerstattung für die ArbeitnehmerInnen werden soll, hör ich schon. Ja, glaubt denn wirklich noch jemand, ArbeitnehmerInnen suchen ihren Bauplatz nach der Fahrkostenerstattung aus? Grundstückskosten, Kindergärten, Schulangebote, Grünanlagen und Verkehrsberuhigung: das sind wohl eher Indikatoren für die Wohnortwahl.

Stichwort: Flexibilisierung

Wir haben es viel zu lange hingenommen, daß Flexibilisierung aussschließlich in Bezug auf ArbeitnehmerInnen diskutiert wurde. Was ist eigentlich mit den Unternehmen? Warum ist es in Deutschland immer noch nicht möglich, erworbene Pensionsansprüche und Betriebsrenten von einem Betrieb in den anderen zu übertragen, wenn ArbeitnehmerInnen das Unternehmen wechseln wollen? Warum wird nur sehr zögerlich die Einführung von Arbeitszeitkonten betrieben, warum lassen Lebensarbeitzeitkonten weiter auf sich warten? Auch die Beteiligung der ArbeitnehmerInnen am Unternehmen sind brachliegende Perspektiven.

Ich höre schon die Bedenkenträger in den Gewerkschaften: „Bei einer ArbeitnehmerInnen-Eigentümer-Gesellschaft besteht die Gefahr, das die Beschäftigten zu gewinnorientiert denken und die Langsamen in der Belegschaft nicht mehr tolerieren und zeitweise unrentable Abteilungen schneller geschlossen werden“.

Oder wie wär es mit einem Bedenkenträger aus dem Unternehmerkreis. „Arbeitszeitkonten verhindern einen produktionsorientierten Arbeitsablauf“. Auch für Politker läßt sich einiges vorahnen: „Unsere Sicherungssysteme gehen von regelmäßiger monatlicher Beschäftigung aus“. Das mag alles richtig sein und muß genau bedacht werden. Trotzdem müssen wir uns sputen, müssen die Bedenkenträger argumentativ entkräften. Wir dürfen unsere Zukunft nicht verbauen.

Stichwort: Lernen als Lebenskonzept

Wir sollten uns immer in Erinnerung rufen, daß Wandel das einzig Beständige in unserem Leben ist. Es hilft nicht, wie noch vor einigen Jahren vor bösen Computern zu warnen und den sinnlosen Versuch zu starten, deren Einführung zu verhindern. Es hilft nicht die Augen vor Internet, Telematik und Datenautobahnen zu verschließen, mahnend auf dunkle Gefahren zu verweisen. Damit der Wandel uns nicht ständig in unseren Grundfesten erschüttert, muß geistige Beweglichkeit erhalten und geschult werden. Das heißt: Lernen als Lebenskonzept; ständige Aus-, Fort- und Weiterbildung! Fit sein für den Wandel, nicht nur in der Arbeitswelt sondern auch sonst. Eine gewerkschaftliche Daueraufgabe, die es zu intensivieren gilt, die ständig neu auf den Prüfstand gehört.

Stichwort: Globalisierung

In einer globalen Wirtschaft wird es auf Dauer kein geschütztes Umfeld für die Wirtschaft irgendeines Landes mehr geben. Dialog und permanenter Kontakt zwischen Gewerkschaft und Arbeitgeberverband, zwischen Betriebsrat und Betriebsleitung können hier neue Formen des gemeinsamen Vorgehens und damit konkurrenzfähige Voraussetzungen für unsere Wirtschaft schaffen, von der dann alle profitieren müssen. Vom Klassenkampf zur Partnerschaft? Ja, wenn es allen Nutzen bringt, vorhandene Arbeitsplätze sichert und neue schafft.

Wenn die Wirtschaft global plant und reagiert, können Gewerkschaften auf Dauer mit regionalen Themen und nationalen Regelungen allein nicht überleben. Es käme zwangsläufig zu einem Ungleichgewicht innerhalb der Tarif- und Sozialpartnerschaft. Wir müssen uns also international vernetzen, müssen uns anders organisieren, müssen Aufgaben für Aufsichtsräte und die damit verbundenen ArbeitnehmerInnenmandate neu diskutieren. Ein langer Weg für die europäischen Gewerkschaften. Die Diskussion steckt noch in den Kinderschuhen und nur ab und zu flackert das Thema auf. Leider noch unter der Fragestellung: „Wie kann unser Sozial- und Tarifsystem transferiert werden?“ Die Fragestellung ist verkürzt und darum falsch. „Wie können wir, unter Berücksichtigung unserer jeweiligen nationalen Systeme, zusammenarbeiten und wo haben wir Gemeinsamkeiten, an denen wir anknüpfen und konstruktiv arbeiten können?“, muß die Fragestellung lauten. Sonst kann das leicht abgleiten, und am deutschen (Gewerkschafts-) Wesen soll dann die (Wirtschafts-) Welt genesen. Das weckt böse Erinnerungen, das werden unsere Partner sich nicht bieten lassen, so kann man nicht gleichberechtigt gestalten.

Stichwort: Individualisierung

Die Mitglieder der Gewerkschaften sind einzelne Menschen mit ganz unterschiedlichen Wünschen an ihre Organisation. Das heißt: Wir müssen uns zum Profit-Center wandeln mit guten und schnellen Dienstleistungen für den Einzelnen. Die Zeiten der Klassenkampfparolen und die zum Kampfe geballten Gewerkschaftsfäuste sind vorbei.

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