Ähnlich gespaltene Existenzen

■ Das Arsenal zeigt den wichtigsten Film des Kubaners Tomas Gutierrez Alea: "Erinnerungen an die Unterentwicklung"

Recht gallig konnte Tomás Gutiérrez Alea werden, wenn man ihn auf den Übermut der Ämter ansprach. Wahrscheinlich ist er, der am 16. April im Alter von 67 Jahren in Havanna gestorben ist, deshalb Kubas erster Volksregisseur geworden. In seinen letzten Interviews mußte er sympathischerweise selbst ein bißchen über seine markigen Worte von vor dreißig Jahren lachen, aber damals, als das „Nuevo cine“, das neue kubanische Kino, gegründet wurde, herrschte heiliger Ernst. Während „Geschichten der Revolution“ (1960) noch den Triumph des Aufstands feierte, traten in Aleas wichtigstem Film, „Erinnerungen an die Unterentwicklung“ (1968) schon die Brüche zutage. Im Rahmen einer Gutiérrez-Reihe zeigt das Arsenal „Erinnerungen“ an diesem Wochenende.

Man staunt über sich und die Welt: Ausgerechnet in der Springer-Presse wurde der Protagonist des kubanischen Films „Erinnerungen an die Unterentwicklung“ als „Konterrevolutionär“ gebrandmarkt! Das ist allerdings fast dreißig Jahre her – von heute aus betrachtet, erscheint der Held im vielleicht subtilsten Film von Tomás Gutiérrez Alea schon fast als linksradikaler Intellektueller. Daß beide Sichtweisen irgendwie stimmen, läßt den 1967 produzierten Film zu einer aktuellen Wiederbegegnung mit den Utopien von damals werden.

„Erinnerungen an die Unterwicklung“ erzählt die Geschichte eines 38jährigen Amateurschriftstellers und Hausbesitzers im krisengebeutelten Havanna von 1961. Wie viele Angehörige der Bourgeoisie fliehen auch Sergios Familie und Ehefrau mit lädierten Nervenkostümen nach Miami. Er selbst empfindet die Abschiede als Genugtuung: „Alle, die mich liebten und bis zur letzten Minute geärgert haben, sind gegangen.“ Mit den dekadenten Verwandten und Freunden verschwinden, so hofft Sergio, auch die eigenen, negativen Angewohnheiten: das Verwöhnte, Blasierte und Ängstliche. In seinem modernen Appartement harrt er gespannt der revolutionären Entwicklung, beobachtet die Stadt vom Balkon aus mit dem Fernglas und stellt als frisch Geschiedener nunmehr den proletarischen Frauen nach. Bei diesem Unterfangen, das Sergio offenbar selbst für ein bißchen revolutionär hält, gerät er jedoch alsbald an komplizierte Klassengrenzen. Seine erste Beute, die hübsche Schauspielanwärterin Elena, interessiert sich zwar für die Kleider der geflohenen Ehefrau, aber nicht für die schöngeistige Freizeitgestaltung ihres Liebhabers.

Als die beiden gemeinsam die Hemingway-Villa besuchen, verurteilt Sergio den berühmten Kollegen als einen unerträglichen Jagdfetischisten, der sich in Kuba wie ein Kolonisator aufgeführt habe. Wie so oft analysiert der bürgerliche Held in dieser Szene mit witzigem Scharfblick die Schwäche der Reichen für den tropisch-luxuriösen Lebensstil in den Ländern des Südens, der im Norden längst unhaltbar geworden ist. Aber Sergio ist zu sehr ein eitler Macho, um sich aus seiner eigenen Verstrickung mit dieser Gesellschaftsschicht befreien zu können.

Als Elenas Familie Sergio anklagt und ihn vor Gericht zur Heirat mit der „Unterentwickelten“ drängen will, verbietet er sich nach seinem Freispruch zwar die Schadenfreude, doch nur um sich selbstzufrieden und arrogant der Distinktion zu vergewissern: „Sie sind zu unklar im Kopf, um schuldig zu sein.“

Der Film ist wie ein essayistisches Tagebuch aufgebaut: Das aktuelle, fiktive Geschehen wird durch innere Monologe und Rückblenden kommentiert. Zwischendurch montiert Alea auf elegante Weise Dokumentaraufnahmen aus Havanna, das damals noch viel amerikanischer wirkte als heute. Man spürt auf der Straße und in den kurzen Fernsehausschnitten die Angst vor einem Krieg, aber auch den Aufbruchwillen der kubanischen Revolution.

Sergio ist in dem politischen Durcheinander kein Sympathieträger und erst recht kein „positiver Held“, aber Alea schafft es trotz der Widersprüche, ihn zu einer schillernden Identifikationsfigur zu machen. Weil er zwischen den Fronten lebt, wird er zu einem Geistesverwandten all jener, die im imperialistischen Ausland als Kuba-Sympathisanten ähnlich gespaltene Existenzen führten. Das erklärt zwar nicht die Interpretation des Protagonisten als „Konterrevolutionär“ in der Welt, doch das damals aufsehenerregende Interesse an diesem Film, der zu den Perlen des lateinamerikanischen Kinos zählt. Dorothee Wenner

„In memoriam Tomás Gutiérrez Alea“ – heute und morgen, 21 Uhr: „Erinnerungen an die Unterentwicklung“ (Memorias del subdesarrollo, OmU), am 29.7., 19 Uhr: „Erdbeer und Schokolade“ (Fresa y chocolate, OmU), am 31.7., 19 Uhr: „Guantanamera“ (DF), Arsenal-Kino, Welser Straße 25