Wider das weltweite MTV-Format

Für Bescheidwisser, Fans, Ignoranten oder Neueinsteiger: Die elektronische Avantgarde leutet heute abend auf arte sechs neue Folgen des Musikmagazins „Lost In Music“ ein  ■ Von Gerrit Bartels

Popmusik und Fernsehen sind zwei Medien, die eine tragische Geschichte miteinander verbindet. Seitdem die Musikkanäle MTV und Viva mit ihren vierundzwanzigstündigen Programmen den meisten Musiksendungen Sendeplätze und Daseinsberechtigung abgegraben haben, läuft auf den anderen Kanälen bloß noch ein Rinnsal an Musikläden, Popshows und Rockpalästen. Um so erstaunlicher sind Erfolg und Permanenz einer Reihe sogenannter Musikmagazine, die es seit vier Jahren in bislang sehr lockerer Folge auf arte zu sehen gibt: „Lost In Music“.

Seitens der Redakteure des Kulturkanals war damals eine „etwas andere Musiksendung geplant, mit dem Schwergewicht auf Deutschland“. Dafür engagierte man Video- und MusikfilmregisseurInnen wie Christoph Dreher, Rolf S. Wolkenstein, Ellen El Malki oder die Cutterin Rotraut Pape sowie Mitarbeiter der Musikzeitung Spex. So hat „Lost In Music“ in der Tat nichts mit dem anonymen Abspulen von Videoclips oder der Moderation gewöhnlicher Hitparaden zu tun: Statt dessen widemt man sich gut eine Stunde bestimmten (musikalischen) Subkulturen wie HipHop, Jungle, Country oder den Rriot Grrrls, wobei Deutschland naturgemäß oft mehr das Fenster in die angloamerikanische Popwelt darstellt.

Alles was an Sendungen für Spezialisten und Eingeweihte denken läßt, sollte jedoch von Anfang an bewußt vermieden werden. Christoph Dreher, selbst Musiker bei der Berliner Band Die Haut und als Regisseur und Kameramann an den meisten „Lost In Music“-Sendungen beteiligt, erläutert Idee und Konzeption so: „Wir wollten was machen, was eben nicht nur für den Insider ist. Jeder, der Lust hat, einen dieser Filme zu gucken, soll verstehen, um was es sich dreht. Und das schließt auch technische Fragen mit ein: Was ist ein Sampler, was ist ein Synthesizer? Darstellen wollen wir einerseits eine neue Art des Musikmachens, die zusammenhängt mit den neuen Technologien, andererseits wollen wir diese Vorgänge auch entmystifizieren.“

So nähert man sich in den sechs neuen Folgen – vor allem im Bereich primär elektronischer Musikarten wie Techno, Ambient oder Jungle – bevorzugt den Produktionsmechanismen und versucht, die „plötzlich anders gewordenen Denk- und Arbeitsvorgänge beim Produzieren von Musik sichtbar zu machen“: In der heutigen Folge „Electronic Jam“ besucht man Musiker wie die Kölner Instrumente-Entfremder von Air Liquide oder den Frankfurter Kybernetiker Atom Heart in ihren Studios, läßt sich, in der „Crossover“- Folge (10.8.), von Sielwolfs Peter Prochir den Umgang mit Samplern demonstrieren oder bekommt von Londoner Junglisten die Vorteile einer „Dubplate“ erklärt.

Daß das nicht zu technisch und oberlehrerhaft gerät, zumal auch Herren wie Stockhausen und Diedrich Diederichsen zum Einsatz kommen, dafür sorgt ein abwechslungsreicher Mix aus Liveaufnahmen, Interviews, Videoausschnitten und dokumentarischen Aufnahmen, der recht tiefe Einblicke in die jeweiligen Subszenen verschafft. Dreher nennt das ein „Arbeiten mit verschiedenen künstlerischen Formen, so daß man, auch die didaktische Ebene involvierend, kleine Miniaturen hat, die sich ästhetisch und dramaturgisch ergänzen“. Für die einzelnen Filme fungiert so nicht nur die musikalische Ausrichtung als gemeinsamer Nenner: Wichtig sind vor allem die für die einzelnen Szenen typischen Rituale, Moden und Kommunikationszusammenhänge.

Natürlich geht es nicht nur um Szenegemeinsamkeiten und neue Produktionsmethoden, nicht nur darum, „daß sich alle Beteiligten wiederfinden und da kein Bullshit unsererseits gefilmt wird“ (Achtung, Szene-Credibility!), sondern auch um die Faszination, die von Popmusik jenseits von Unterhaltung, Kommerz, Formatierung und Rotationszwängen ausgehen kann. Gut kommen die unterschiedlichen Motivationen, Ansätze und Voraussetzungen, Musik zu machen, zur Geltung.

Wider das weltumspannende MTV-Format spürt man vor und hinter der Kamera ganz eigenen Enthusiasmus, wird aus Popmusik ein Sound von Freiheit und Abenteuer, zeigen die „Lost In Music“- MacherInnen ihre Vielfältigkeiten und Differenzen.

Da spricht DJ Hype von der Gesichtslosigkeit des Jungle, die für ihn aber gerade die „Schönheit und Angriffsfläche dieser Musik“ ausmacht; da lehnt ein Richard H. Kirk (alias Aphex Twin) jede für ihn und seine Kompositionen nur hinderliche Identität in Bausch und Bogen ab. Ganz im Gegensatz dazu erfreut sich der Berliner Country-Adept Christoph Hahn an der geliehenen (amerikanischen) Identität – an der Parallelität von Gefühlen und Stimmungen, die Country auch in Deutschland funktionieren läßt; oder begründet der Sänger von Mutter, Max Müller, seine künstlerisch- musikalische Tätigkeit mit den Worten: „Es ist ein spannendes Thema, sich mit Identität auseinanderzusetzen, wenn man aus einer identitätslosen Stadt wie Wolfsburg kommt.“

Bekannt zwielichtig und offen wiederum äußert sich Einstürzende-Neubauten-Mitglied Alexander Hacke (seit wenigen Monaten mit Meret Becker verheiratet) im Hinblick auf seine Country-Affinität: „Ich will einfach mehr Sex und Gewalt in diese Musik bringen.“

Daß man nun bei arte nicht urplötzlich die Popkultur für sich entdeckt hat und mit aller Entschlossenheit zu integrieren versucht, beweisen übrigens die programmplanerischen Volten, die man mit der ab heute laufenden Sendereihe hatte: So waren drei Folgen davon schon lange produziert und für 1995 im Programm eingeplant, um dann doch fürs erste in den Archiven zu lagern. Im Februar wiederum bekam die Berliner Produktionsfirma Turner & Tailor den Auftrag für drei weitere Sendungen, die in aller Eile für die plötzlich freien Termine im August produziert werden sollten.

Da kann es leicht passieren, daß sich der arte-typische hehre Anspruch auf Reflexion und ein für den Popbereich übliches Spekulieren auf Novelty-Aspekte und Trends irgendwann mal in die Quere kommen. Bislang jedoch kann man in diesem Musikmagazin mehr als eine Ahnung gewinnen von der „totalen Freiheit in Gefühl und Ausdruck“, wie der Ambient-Junglist LTJ Bukem die Bedeutung von Musik für sich etwas pathetisch beschreibt. Ob als Bescheidwisser, Fan, Ignorant oder Neueinsteigerin.

„Lost In Music“ auf arte: „Electronic Jam“, heute 22.30 Uhr, „Out of Country“ (3.8.), „Crossover“ (10.8.), „London Jungle“ (17.8.), „Mutter, Doris und Verwandte“ (24.8.), „Girls, Girls, Grrrls“ (31.8.) jeweils 22.30 Uhr. Wiederholungen am jeweils darauffolgenden Freitag um 0.45 Uhr