Universalismus, wie zweite Haut getragen

Michael Walzer entdeckt den Volksgeist für die amerikanische Philosophie. Sein moralischer Relativismus verschleiert eine Voraussetzung seines Denkens – den selbstverständlichen Universalismus der amerikanischen Tradition  ■ Von Sibylle Tönnies

Nachdem die Polarität zwischen Kapitalismus und Sozialismus nicht mehr Gegenstand des wissenschaftlichen Nachdenkens ist, sind Universalismus und Relativismus an ihre Stelle getreten: Gibt es die eine, wahre Auffassung, die für alle richtig ist – zum Beispiel die Idee von Freiheit und Gleichheit –, oder darf jede Kultur ihre eigenen Standards ausprägen? Den großen relativistischen Einbruch brachte die Postmoderne, und die Kommunitaristen gaben dem neuen Denken eine besondere Note. Nach ihrer Auffassung sind alle Gesellschaftsauffassungen gleich gut oder schlecht, aber jeder soll seine eigene für die einzig richtige halten dürfen – Partikularismus ist gesund.

Dieser Ansicht ist auch Michael Walzer. Er ist berühmt geworden durch seine Theorie der „Sphären der Gerechtigkeit“. Wie die Kommunitaristen meint er, daß eine Gesellschaft nicht unter der Maxime der Gleichheit steht; nach seiner Ansicht aber darf sie ihre Vergünstigungen nicht gebündelt vergeben, sondern muß sie nach Sphären trennen. Wer Macht hat, soll nicht zugleich auch schöne Frauen haben, wiederum andere sollen die schnellen Autos und das Geld bekommen, wiederum andere sollen Ansehen genießen und so weiter.

Diese These trägt Walzer auch in seinem neuen Buch vor. Die Besonderheit dieses Textes besteht aber darin, daß er dem verdrängten Universalismus wieder einen Raum gibt. Zwar sollen die Völker ihre Werte selbst bestimmen, aber es muß demokratisch zugehen. Ja, wie denn nun? fragt sich der Leser, der das Problem gerade darin sieht, daß manche Völker entschlossen sind, ohne Demokratie selig zu werden. Diesem Problem stellt sich Michael Walzer nicht. In seiner angenehmen, gut verständlichen Diktion umschifft er solche Kaps, indem er eine charmante Geschichte erzählt, und die drängenden Fragen bleiben offen.

Walzer legt Wert darauf, daß der Raum, der dem Universalismus zukommt, ganz schmal ist. Der amerikanische Originaltitel seines Buches heißt „Thick and Thin. Moral Argument at Home and Abroad“, und das, was at home gilt – also das Partikulare –, ist das Dicke, und das, was abroad – also universal – gilt, ist das Dünne. Die deutsche Übersetzung ist dem Wort „dick“ ausgewichen und hat es als „dicht“ übersetzt. Aber die in dick und dünn ausgedrückte Umfangsbestimmung ist ernst zu nehmen. Walzer spricht auch von Minimalismus, wenn er den Universalismus, und von Maximalismus, wenn er den Relativismus meint. Damit stellt er das auf den Kopf, was per definitionem für den Universalismus gilt, denn dieser stellt Maximen auf, und wenn diese Obersätze auch den Charakter der Kürze und Einfachheit haben (der Obersatz der Gleichheit zum Beispiel), so liegt das an ihrer Abstraktheit, die gleichzeitig ihren Umfang bezeichnet: Sie sind übergreifend und wären deshalb eher als das Dicke anzusehen. Walzer muß aber an der Verkleinerung des Universalen festhalten, um nicht zurückzufallen in das übliche amerikanische Weltbild, das universalistisch ist und gerade überwunden wurde.

Die Bedeutung des Walzerschen Textes – wie der kommunitaristischen Literatur überhaupt – ist nur vor dem amerikanischen Hintergrund zu verstehen: dem natürlichen und selbstverständlichen Universalismus, der von den Amerikanern wie eine zweite Haut getragen wird. Um diesen Universalismus zu relativieren, und das heißt: ihn als historisch eigentümliche Partikularität erkennen zu können, bedurfte es einer intellektuellen Anstrengung, die bei uns kaum nachzuvollziehen ist. Was in Deutschland ein alter Hut ist, ja: was den deutschen Sonderweg ausmacht – die Verachtung des Universalismus, die Verehrung des Volksgeistes –, haben die Amerikaner frisch entdeckt. Sie stoßen jetzt auf das, was Herder mit den „Stimmen der Völker“ meinte, und ziehen, ohne es zu wissen, die Linien des Historismus nach. Sie holen die Diskussion nach, die in Deutschland als Auseinandersetzung zwischen Aufklärung und Romantik um die Wende zum 19. und als Entscheidung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft um die Wende zum 20. Jahrhundert stattgefunden hat.

Die Tatsache wiederum, daß der neue amerikanische Ansatz auch in Deutschland als frisch und originell empfunden wird, hängt mit den Traditionsbrüchen zusammen, die durch die Totalitarismen beider Couleurs bewirkt wurden, und dem Verlust an Allgemeinbildung. So, wie die Deutschen nach 1945 von den Amerikanern zum Universalismus zurückgeführt wurden, ließen sie sich an ihrer Hand in den Partikularismus führen – und jetzt, von Walzer, wieder ein Stück zurück zu einem dünnen Universalismus. Walzer und seine kommunitaristischen Kollegen sind für uns nur dadurch eindrucksvoll, daß hinter ihren Überlegungen immer ein selbstverständlicher Universalismus versteckt ist – wie minimal er sich auch geben mag. Eine konsequent relativistische Kulturkreislehre können sich die amerikanischen Autoren überhaupt nicht vorstellen. Sie würden davor erschauern. Was auch immer ihre Statements sein mögen: sie stehen im Genuß eines dicken, fetten Universalismus, um den wir sie nur beneiden können.

Lesenswert sind in Walzers Buch allein die Seiten 27/28. Dort wischt er mit der richtigen Handbewegung Habermas' Diskursethik als Zirkelschluß weg: Die Universalien Freiheit und Gleichheit werden als das Ergebnis korrekter Diskurse ausgegeben und bestimmen doch gleichzeitig die Frage, ob Diskurse korrekt sind.

Michael Walzer: „Lokale Kritik – globale Standards. Zwei Formen moralischer Auseinandersetzung“. Rotbuch Verlag 1996, 160 Seiten, 34 DM