Die arme kleine Sängerwelt

Wolfgang Wagner inszeniert die „Meistersinger“ seines Großvaters in Bayreuth als Museumsstück  ■ Von Sabine Zurmühl

„Kommt er?“ – „Wer denn?“ – „Ist doch egal!“ – Wortwechsel des Bayreuther Volkes bei der Auffahrt der Promis für den roten Teppich. Es regnet ein bißchen, die Frauen – hauptsächlich Frauen sind gekommen – haben Regenhäubchen auf und Kinderwagen dabei. Sie stehen schon eine Stunde zu früh, aber auf sicherem Platz an der Kordel, um die blassen Nachfahren einer Beghum oder eines bayerischen Landesvaters Strauß anzuschauen. Geklatscht wird wenig, höchstens mal, wenn Margot Werner Kußhändchen wirft. Ansonsten sind die Herrschaften seriöser, und sogar Götz George hat sich ein Lagerfeld- Schwänzchen geflochten und guckt ganz gesammelt. Das übrige Publikum ist ein bißchen neidisch und ein bißchen peinlich getrennt von den Glimmerglitzergästen und dem schweren politischen Kaliber wie Herzog, Weizsäcker, Genscher sowieso – da seien die Herren mit dem Funkknopf im Ohr und dem wachen Blick vor.

Zwei Jugendliche mit Räuberoutfit, Kapuzen und nicht erkennbarem Auftrag auf diesem grünen Hügel werden höflich, aber bestimmt gefilzt und wieder Richtung Stadt geschickt. Die Extravaganten sind heute bei der Premiere und Festspieleröffnung noch nicht so gut vertreten. Da ist das Verwegenste schon eine Aidsschleife mit Brilli und ein gelbes (!) Gummibärchen am Smoking.

Am Seitengang aber ist eigentlich alles beim alten: Der Schwarzhändler handelt, Leute führen ihren Rauhhaardackel spazieren, dem sie ein Schild auf den Rücken gebunden haben: „Karte gesucht“. Alleinstehende Damen und Herren jeden Alters und Standes zeigen verschämt oder routiniert ihren Suchzettel hoch.

Im Festspielhaus also: die Premiere der diesjährigen Bayreuther Festspiele, die „Meistersinger von Nürnberg“, inszeniert durch den Leiter der Festspiele und Enkel des Meisters himself: Wolfgang Wagner.

George Bernard Shaw, der Spötter und unbestechliche Wagner-Kritiker, hatte die „Meistersinger“ „einen Schatz von allem Lieblichen und Glücklichen in der Musik“ genannt – womit er sicher recht hatte. In dieser Inszenierung war davon wenig zu sehen.

Die heitere Farbe oder auch – je nach Blickwinkel – sarkastische Beschreibung dieses mittelalterlichen Nürnberg, in dem sich Intrige, Versöhnung, Prügelei und Liebe begegnen, in dem sich eher derbe Volksszenen und zarteste Soli abwechseln, in dem es um Kunst und deutsche Kunst geht und die deshalb eine wahrlich große politische Hypothek mit sich herumschleppt – diese Inszenierung ist bei Wolfgang Wagner ein Museumsstück, ein theatralischer Rückschritt.

Da hilft nicht das Bühnenbild, ebenfalls von Wolfgang Wagner entworfen, das einer Weltkarte Dürers von 1515 nachempfunden ist, in Form eines überdimensionales Gitterwerks, unter dem sich diese arme kleine Sängerwelt spannt. Generationen von Wagner-Publikum kennen die traditionellen Bildauflösungen – Wolfgang Wagner bedient sie von neuem. Die „Werkstatt Bayreuth“, von ihm selbst ja oft zu Recht hochgelobt und beschworen, hat sich da unübersehbar verabschiedet. Die Inszenierung entwickelt keine eigene neue, gar unerwartete, gar provozierende Haltung zu diesem Stoff, der Männerbund, Bürgerunterlegenheit und Adelssieg, aber auch Demütigung des Verlierers und Nationalappell der mißverständlichsten Art miteinander vereinigt. Die „Meistersinger“, die jeden Reichsparteitag schmückten, bedürfen eines aufgeklärteren, politischeren Zugangs, als ihn Wolfgang Wagner zu leisten bereit oder fähig war.

Schon 1845 hatte Wagner einen ersten Entwurf geschrieben – noch ganz in der Hoffnung, wie sie sich auch in der 48er Revolution ausdrückte, auf nationale Einheit gegenüber der Kleinstaaterei. Zur Uraufführung kamen die „Meistersinger“ dann aber erst 1868 in München. Es ist die Geschichte des Ritters Stolzing, der seine Geliebte Eva ersingen muß, weil sie erstens Tochter eines Handwerkers und Meistersingers und zweitens auch noch als Preis (!) für ein Wettsingen ausgesetzt wurde. Der Adelige siegt mit intuitiv schönen Liedern über die regellastigen Meistersinger-Übungen. Hinzu kommt, daß der einzige Konkurrent nicht ernst zu nehmen ist und so dem Sieg der Liebe und der Oberschicht eigentlich nichts mehr im Wege steht – doch nun holt der Schuster Hans Sachs, als Vertreter des aufstrebenden Bürgertums, zur Generalapotheose aus – „Ehrt Eure deutschen Meister!“ –, die man 1996 wirklich nicht mehr so scheinnaiv, so 1:1, so verlogen als historisches Zitat gewissermaßen, zeigen sollte.

Die Sänger zeigen Spuren dieser inszenatorischen Enthaltsamkeit. Sie bewegen sich schauspielerisch allein in der Konvention – das schmerzt besonders, weil sie vor allem in den großen Rollen junge Neuentdeckungen sind für Bayreuth, die wunderbar singen dürfen und ziemlich schwerfällig spielen müssen.

Robert Holl ist ein junger Sachs, stimmlich souverän und warm, aber leider um den Sex-Appeal gebracht, der in seiner Beziehung zum jungen Evchen doch eine Rolle spielt. Daß Evchen statt des steifen Ritters vielleicht mit dem ollen, aber hellen und herzlichen Sachs besser bedient gewesen wäre, beschäftigte Generationen von Opernbesuchern beziehungsweise – zugegebenermaßen – -besucherinnen. Renée Fleming aus den USA ist ebenfalls zum erstenmal in Bayreuth, ihre Eva ist stimmlich makellos, mit ungewohnten schönen Tiefen – aber auch sie muß die konventionelle Rolle hüten, die Schelmische, die dekorativ abwartet, was die Männer für sie richten.

Peter Seiffert ist strahlend und kräftig ein Stolzing, wie er im Buche steht, er bewältigt die Riesenpartie mit freudiger Leichtigkeit – auch er ein Bayreuth-Debütant.

Die Amme Magdalene wurde von Birgitta Svendén gesungen, die eine hinreißende Erda im „Ring“ ist, für die Magdalene aber fast zu dunkel und schwerfällig geriet. Eine Überraschung gab es gestalterisch aber doch: der Beckmesser von Andreas Schmidt. Anders als üblich sang Schmidt mit seinem lyrischen Bariton den sonst meist veralberten oder verzerrt dargestellten Stadtschreiber, der gedemütigt und verloren am Schluß für die Phantasielosigkeit und Regelgläubigkeit der Meistersinger steht, in einer Hingabe, einer Weichheit und Ruhe, die wirklich eine andere Dimension der Rolle erschloß.

Ganz sicher wußte Wagner, das uneheliche Kind aus den kleinen Verhältnissen mit dem unstillbaren Hunger und dem so langen Weg zum schließlichen Ruhm, viel über die Demütigung und das Kleingemacht- oder Kleingehaltenwerden. Ganz sicher wußte er – der seine „Meistersinger“-Premiere von seinem Freund Hans von Bülow dirigieren ließ, von dessen Frau Cosima er, Wagner, inzwischen zwei uneheliche Kinder hatte – auch viel darüber, wie man Menschen von sich abhängig macht und duckt. All dies mag als Spurenelement in den Verlierer Beckmesser eingegangen sein, der in der kritischen Wagner-Rezeption oft als Judenkarikatur vermutet und geächtet wurde. Der Beckmesser hier, der Merker, also Fehleraufzeiger bei der Zunft der Meistersinger ist, der buchhalterisch sein Werk ernst nimmt und dafür schließlich auch gewählt wurde – dieser Beckmesser rennt sehenden Auges in ihn überfordernde Situationen, in denen eigentlich klar ist, daß er scheitert. Kein unbekanntes Muster.

Der musikalische Eindruck des Orchesters unter Daniel Barenboim blieb widersprüchlich – es gab ungewohnt laute, eindimensionale Passagen, die berühmte Prügel-Chor-Fuge des 2. Aktes hatte schwere Probleme, Themen wurden fast unverständlich gedehnt – andererseits aber blieben natürlich die zarten, solistischen Sternmomente im Orchester oder auch im Ensemble,wie beim Quintett der „seligen Morgentraumdeutweise“.

Das konventionelle Publikum war von Wolfgang Wagners Inszenierung begeistert, endlich eine Inszenierung, wo du dich darauf verlassen kannst, daß alles kommt, wie es immer kam. Es muß schwer sein, ein solcher Enkel eines solchen Großvaters zu sein.

Bayreuther Festspiele, Premiere vom 25.7.96: „Die Meistersinger von Nürnberg“ von Richard Wagner. Inszenierung: Wolfgang Wagner, Musikalische Leitung: Daniel Barenboim