Bauer Rugen seine Kiste

■ Knecht „Computer“erledigt auf dem Hof die Buchführung und füttert die Schweine

Die Versuchung ist groß, der Krankheit von Bauer Rugen einen symbolischen Wert beizumessen: Hermann Rugen (Jahrgang 1934) ist allergisch gegen seine Scholle. Genauer: gegen gewisse allgegenwärtige Pilzsporen im Boden. Kommt er mit seinem Allergen in Berührung, fällt das Atmen schwer; er muß dann heilsame Dämpfe aus einem Plastikgefäß schnüffeln. Das hindert ihn aber nicht, nebenher seine 700 Schweine zu füttern: In der ehemaligen Knechtkammer steht ein Computer, der über eine 150 Meter lange Standleitung mit dem Schweinestall verbunden ist. Vom PC aus kann Bauer Rugen eine Fütterungsautomatik starten und beeinflussen.

Der Sprung könnte kaum größer sein: Als Kind hat er noch die Sense geschwungen und mit Pferden gearbeitet; heute hat er nur noch ein müdes Lächeln für seine allererste 20-MB-Festplatte übrig und in seinem Wortschatz Begriffe vorrätig wie „Aufsatteln durch Updates“. Zwar meint der Bauer, wenn er an seinen zwölfjährigen Enkel denkt: „Wir verstanden mehr vom Leben, Werden, Sterben“. Andererseits redet er über „den Kasten“ schon ganz wie der abgebrühte Profi: „Im Grunde ist der Computer das Doofste, was es gibt.“

Rugens Hof liegt in Breddorf, einem kleinen Dorf am Rande des Teufelsmoors nordöstlich von Bremen. Der Boden in dieser Gegend ist sandig und schlecht; die Bauern leben von Weidewirtschaft, Kartoffeln, Getreide und BASF. Der Hof ist mit 86 Hektar fast doppelt so groß wie der Landesdurchschnitt. Er ist ganz auf Schweinemast spezialisiert – was auf dem Acker wächst, wird verfüttert. Nur die Kartoffeln gehen in die Schnapsbrennerei. Vor sieben Jahren liefen überall im Land die landwirtschaftlichen Berater herum und trommelten für den Computereinsatz in der Landwirtschaft. Rugens Hof war sofort dabei – zunächst mit einem Buchführungsprogramm.

„Wenn ich meine Kosten nicht kenne, spiele ich wie an einem Spielautomaten“, sagt Hermann Rugen und traktiert die Funktionstasten des PC. „Good afternoon! Welches Programm darf ich für dich laden?“ Mit Vergnügen demonstriert er wechselweise das Buchführungsprogramm von WISO, ein Schlachtauswertungsprogramm und die Routenplanung von Aral. Was ist eigentlich gerade im Stall los? Ein Schalter öffnet die Verbindung zum Stallrechner. Aha, im Augenblick wird das Futter fürs Abendessen gemischt. Je nach Alter bekommen die Schweine Futter unterschiedlicher Zusammensetzung. Plötzlich steckt Andreas Rugen den Kopf zur Tür herein: „An der Fütterung spielst du nicht rum!“ poltert er und verschwindet wieder.

Andreas Rugen ist 36 Jahre alt und seit der Berufsunfähigkeit seines Vaters der „Betriebsleiter“. Daß sich der Alte überraschend angstfrei und unbekümmert in den Dateien bewegt, hat gewisse Schattenseiten. Der Junior formuliert es so: „Vater ist mit Windows überfordert.“ Sicherheitshalber steht ein zweiter Computer oben, in der Wohnung des Sohnes; da findet zum Beispiel die aktuelle Buchführung statt. Bei einem Jahresumsatz von einer halben Million möchte man nicht nur zweimal im Jahr Zahlen vom Steuerberater haben. Andreas Rugen will jederzeit wissen können, wie es um seine Liquidität, die Rentabilität seines Hofes oder das Vermögen aus operativer Geschäftstätigkeit bestellt ist. Dafür betreibt er einigen Aufwand. Der Bauer sitzt täglich eine Stunde am PC.

Viel Arbeit macht die „Ackerschlagkartei“, eine Art Ackertagebuch. Hier wird jeder Kubikmeter Gülle eingetragen, der aufs Feld gefahren wurde, jedes Kilo Dünger, jeder Liter Gift bzw. „Pflanzenschutzmittel“; alle Maschinenkosten einschließlich der Abschreibungskosten für das Güllefaß. Für seine eigene Arbeit trägt der Bauer 25 Mark in der Stunde ein, der 100 PS-Schlepper kostet ihn stündlich 21,60 Mark. Wenn der Rechner auch noch die aktuelle chemische Analyse der Gülle kennt, erstellt er auf Wunsch eine Stickstoffbilanz für jeden einzelnen „Ackerschlag“, wie die historischen Flurstücke heißen. Das spart Kosten, denn Dünger ist teuer. Und zweitens verlangt der Staat zum Schutz des Grundwassers solche Düngemittelbilanzen – der Bauer soll dem Boden nur zuführen, was die Pflanzen wieder aufnehmen. Dem Unternehmer schließlich sagt die Ackerschlagkartei, welches Kapital im Feld gebunden ist.

Über die Vorstellung, daß der moderne Landwirt den Betrieb vom PC aus lenkt und seine Schweine nicht mehr zu Gesicht bekommt, lacht Andreas Rugen nur. Klar, sonntags kann er, seit der die automatische Fütterungsanlage hat, mal ausschlafen. Doch seine eigenen Sinnesorgane sind, wenn es um ein gedeihliches Zusammenleben von 700 Schweinen geht, nicht zu ersetzen. Vor allem die Nase ist wichtig: Was der Unkundige für stinkende Gülle hält, kann dem Bauer ein Wohlgeruch sein, aber auch ein Alarmzeichen. „Einen Durchfall rieche ich Tage vorher“, behauptet Andreas Rugen. Was weiß der Computer von Durchfall? Der Bauer verändert dann am PC den PH-Wert des Futters. Wenn aber ein paar Schweine kränkeln, rote Ohren und blaue Nasen haben und nicht richtig essen wollen, verputzen andere ihre Ration und überfressen sich. Das ist teuer und schlimmstenfalls tödlich. Hier fährt der Bauer die Gesamtration runter. Doch solange nichts schiefgeht im Stall, ist Knecht Computer einfach der bessere Mäster. Durch optimal an die Entwicklung des Mastschweins angepaßtes Futter holt man das Letzte aus ihm raus: „Die Hälfte weniger Abgänge durch Tod, die halbe Futtermenge und eine bessere Fleischqualität“, freut sich der Senior. Mit der automatischen Fütterung komme er „der Wirklichkeit näher“ als damals, als man die Schweine noch nach Augenmaß fütterte.

Weder der Alte noch der Junge wurden am Computer ausgebildet, beide ließen sich hier und da ein paar Tricks von Freunden zeigen, ansonsten: learning by doing. Nur Angelika Klagge, Juniors Frau und 27 Jahre alt, hat das Basiswissen schon auf der Landwirtschaftsschule gelernt. Sie organisiert mit zwei Datenbänken ihre Videosammlung und die Verteilung ihrer Hochzeitsfotos an die Hochzeitsgäste – „statt Zettelwirtschaft“. Durchforstet man die Festplatten auf Rugens Hof, stößt man übrigens auch auf verschiedene Spiele: Scrabble, Schach, Skat, ein Spiel gegen Ausländerfeindlichkeit, Larry ... aber niemand gibt zu, sie zu spielen. Auf dem Hof gilt die Sprachregelung: „Ich bin froh, wenn ich nicht dran sitzen muß. Die Kiste erleichtert nur die Arbeit.“

Letzteres erkennen immer mehr Bauern. Ein „Arbeitskreis Hofcomputer“ wurde 1990 von 30 Mitgliedern des Landvolkverbandes Zeven gegründet und hat mittlerweile vier Untergruppen: eine Kuhplanergruppe, eine Sauenplanergruppe, eine Ackerschlagkarteigruppe und eine Buchführungsgruppe. Beliebt ist besonders die letzte Gruppe – wer die Buchführung selbst macht, spart sofort Geld, nämlich das Honorar für den Steuerberater. Das können leicht 5 bis 10.000 Mark im Jahr sein. Ein weiteres Indiz für zunehmendes bäuerliches Interesse am Computer sind Anzeigen in landwirtschaftlichen Fachmagazinen, in denen Firmen Produktinformationen über das Internet anbieten. Der Bauer kann sich daheim am PC hochgerü stete Schleppermodelle ansehen und alles über neueste Ertragserfassungssysteme oder den Online-Wetterbericht mit Satellitenbild erfahren. Über Hyperlinks gerät man dann leicht auch auf eine „Cyberfarm“ oder in einen Wettbewerb dichtender Bauern in Kentucky.

Bauer Andreas Rugen ist noch nicht soweit. Er will jetzt erst mal seine Bank veranlassen, Homebanking anzubieten: „Meine Arbeitszeit richtet sich nach der Sonne und nicht nach den Schalterstunden“, sagt er. Er verliert immer gleich eine ganze Stunde mit Bankgeschäften, besonders wenn er vom Güllefahren kommt – da muß er sich vorher umziehen. Aber reizen tät' es ihn schon, das Internet. Es wäre doch zu interessant, vor dem Sojakauf die Notierungen der Chicagoer Börse zu studieren. Und eine Warenterminbörse für Schweinefleisch, die für 1998 geplant ist. Bevor die Computerzukunft für Bauer Rugen vollends anfängt, könnte es aber auch ganz schnell ganz anders kommen. Sein Computer hilft nämlich, frühzeitig zu erkennen, ob sein Betrieb in die Pleite geht. Die Gewinne in den bäuerlichen Betrieben mittlerer Größe sind in den letzten Jahren um fast 50 Prozent zurückgegangen. Vielleicht steht eines Tages auf dem Bildschirm: „Good evening! Gib auf!“ Über das Scheitern, sagt Andreas Rugen, denke er „täglich“ nach. Den letzten Satz der Hofchronik, die bis 1740 zurückverfolgt werden kann, hat er schon formuliert: „Andreas Rugen war aus agragpolitischen Gründen der Letzte.“ Trotz Computer. BuS