Der „Andere“ kriegte alle

Christie will es nicht glauben: 100-m-Olympiasieger Donovan Bailey macht mit seinem Weltrekord den Dritten, Ato Boldon, extrem unglücklich  ■ Von Matti Lieske

Atlanta (taz) – Wenig Zweifel über den Sieger hatte Ato Boldon vor dem 100-m-Lauf. „Es kann gut sein, daß zwei unter 9,80 laufen“, prophezeite der Sprinter aus Trinidad und Tobago. Welche zwei? „Ich und ein anderer!“ Als das Rennen zu Ende war, hatte er sich in eigener Sache um eine glatte Zehntelsekunde verkalkuliert, Donovan Bailey dagegen war gar nicht so weit von Boldons Vorhersage entfernt.

Den 28jährigen Kanadier hatte eigentlich niemand richtig auf der Rechnung gehabt, obwohl er im letzten Jahr Weltmeister geworden war. Zu schwerfällig wirkte er bei den Vor- und Zwischenläufen. Dann schon eher den augenbrauenberingten Dennis Mitchell, der eindeutig immer verrückter wird. Wie ein Windhund hetzte er die Strecke entlang und wurde nach seinem Sieg im Zwischenlauf nicht müde, auf sein USA-Abzeichen am Trikot zu deuten. Oder Frankie Fredericks, seit Wochen in Topform, der so wirkte, als er könne er locker noch ein paar Stundenkilometer zulegen. Oder Ato Boldon. Oder der Brite Linford Christie, der in der Vergangenheit stets schnell war, wenn es zählte. Doch dann startete Christie zweimal fehl und mochte seine Disqualifikation gar nicht glauben, Mitchell ward kaum gesehen (und wurde 4. in 9,99 sec), und alles deutete auf Fredericks, der den zuerst führenden Boldon langsam, aber sicher einholte. Auf den letzten 20 Metern kam jedoch der miserabel gestartete Bailey und zog an allen vorbei. „Als ich beschleunigte, kamen die anderen in Reichweite, und ich wußte, ich kriege sie, wenn ich locker bleibe.“ Er kriegte sie, und zwar in der Weltrekordzeit von 9,84 Sekunden. Boldon hatte sich um vier Hundertstel verhauen.

Fredericks (28), der zu gern die erste Goldmedaille für Namibia gewonnen hätte, fügte sich in die Niederlage (9,89 sec) und erklärte sich glücklich mit Silber. Boldon hingegen hatte Bronze (9,90 sec) und war schwer erschüttert: „Ich habe Trinidad heute im Stich gelassen.“ Sein Trost: „Ich bin der Jüngste und komme wieder.“

Gut möglich. Boldon ist 22. Linford Christie aber, der mit sanfter Gewalt von der Bahn expediert werden mußte, ist 36 und wird wohl nicht wiederkommen.