: Der Weltmarkt als Ready-made
Der dänische Künstler Jens Haaning hat im holländischen Middelburg eine Kleiderfabrik installiert ■ Von Harald Fricke
Im Sommer ist selbst die Fußgängerzone von Middelburg vernetzt. Vor jedem Straßencafé und jedem Geschäft hängen Lautsprecherboxen, aus denen unisono Songs von Tina Turner oder Technopop schwappen, ab und zu bringt ein lokaler Radiosender die aktuellen Nachrichten oder Hörergrüße für die Urlaubsgäste. Sonne und Strand allein genügen eben nicht: Der Badeort auf der niederländischen Halbinsel Zeeland, knapp 150 Kilometer südwestlich von Rotterdam, setzt auf ein dichtes Beiprogramm. Neben dem Campingplatz finden Open-air- Konzerte statt, der alte Markt im Zentrum ist flächendeckend mit Schlemmerbuden aus aller Welt zugebaut. Im Schneckentempo schieben sich einige tausend Familien durch die überlaufene Kleinstadt, vorbei an Blumenampeln, Thai-food-Ständen und einer Bühne, auf der gerade eine balinesische Volkstanzgruppe probt. Offenbar fühlen sich die Menschen in diesem verkehrsberuhigten Multikulti-Legoland sehr wohl, schließlich sind Ferien.
Trotz des Ansturms draußen vor der Tür verirren sich nur wenige Touristen in die Ausstellung von Jens Haaning. Es sieht auch nicht sonderlich gemütlich aus in der grob verputzten Vleeshal, einer ehemaligen Fleischerei aus dem vorigen Jahrhundert, in der jetzt Kunst gezeigt wird. Zwischen ein paar Rigipswänden sitzen dort neun ArbeiterInnen an Nähmaschinen und Industriebügeleisen herum, zwei Männer legen pfirsichfarbene Geschirrtücher zusammen; am Ende des schlauchartigen Raums stapeln sich bergeweise Stoffreste, von der Decke hängt ein rotleuchtender Fan- Wimpel des türkischen Fußballclubs Besiktas. Es ist kurz vor sechs Uhr, bald geht die Schicht zu Ende. Dann wird die Belegschaft der Textilfirma Maras Confectie mit dem Bus zurück ins nahegelegene Vlissingen gebracht. Bis dahin ist sie Teil der Installation „Middelburg summer 1996“.
Für seine Ausstellung hat der 31jährige Däne eine Kleinfabrik vollständig ins Museum verlagert, selbst das Büro, eine Kochecke und die Umkleideräume wurden vor Ort nachgebaut. Das Ganze erinnert an die Streiche von Till Eulenspiegel und ist dennoch im Bereich sozial engagierter Kontextkunst angesiedelt: Mitten im Sommer wird den Feriengästen der stumpfe Werkalltag als eine ästhetisch umgewidmete Angelegenheit vorgeführt. Dabei arbeitet Haaning selbst gern mit Menschen. Im vergangenen Jahr hatte er mit jugendlichen Gangmitgliedern in Kopenhagen illegale Waffen als Auflagenobjekt hergestellt, vor ein paar Monaten ließ er bei einer Ausstellung in Bordeaux Fahnen für ein imaginäres Dritte-Welt- Land nähen. Als Kunst im öffentlichen Raum ist diese Art der lebenden Installation mit den Arbeiten von Olaf Metzel vergleichbar, bei dem Haaning in München studiert hat. Auch Metzel arrangiert Situationen um, für den Berliner Skulpturenboulevard hatte er 1987 einen Turm aus Absperrgittern auf dem Ku'damm plaziert — als Denkmal für die Hausbesetzerdemos. Damals mußte die Plastik vor aufgebrachten Bürgern mit einem Zusatzzaun geschützt werden.
In Middelburg nun wehrt sich Haaning mit seinem Eingriff dagegen, daß Kunst als Dekoration im sommerlichen Kulturrummel untergeht. Ursprünglich wollte er knallige Badeanzüge herstellen lassen, in denen sich 300 Menschen aus den ehemaligen holländischen Kolonien als Models unter die Urlauber mischen sollten. „Zumindest wäre mit der Aktion das Erscheinungsbild hier in der Stadt einmal durcheinandergeraten“, betont Haaning den Bildcharakter, „immerhin ist Middelburg sonst ein rein weißer Ferienort.“
Bei seinen Recherchen ist er schließlich auf die Vlissinger Textilfirma gestoßen. Maras Confectie wurde von einem türkischen Gastarbeiter gegründet, der vor 15 Jahren nach Holland kam. Inzwischen hat Vahip Arpacis Betrieb ein Dutzend Angestellte, die allesamt aus dem Iran, Bosnien und der Türkei stammen. So überlagern sich plötzlich Fragen nach dem korrekten Umgang mit kulturellem Import-Export und den überaus konkreten Problemen der Migration: Ein Däne wird zum Kulturaustausch eingeladen und stellt in einer unscheinbaren Arbeitssituation ebenso alltäglich die lokalen Verstrickungen zwischen Wirtschafts- und Exilleben dar.
Andererseits produziert das Unternehmen zu Niedrigpreisen, je nach Auftrag werden Servietten, Bettlaken oder einfache Kleider genäht. Ein belgischer Kunde zahlt für die nächste Lieferung von 30.000 Handtüchern 20 Cent pro Stück, deshalb wird trotz der Vernissage angestrengt im Akkord durchgearbeitet. Das bißchen Kunstpublikum stört dabei kaum, eher verschüchtert schleichen einige Besucher um die Männer und Frauen an den Maschinen herum. Für Arpaci funktioniert das Geschäft jedoch auch außerhalb des Museums nur in einer wirtschaftlichen Nische, die sich aus der Globalisierung der Märkte ergeben hat: „Die großen Fabriken haben ihre Arbeitsstätten alle nach Polen oder Marokko verlagert. Deshalb sind in Amsterdam fast gar keine Textilfabriken mehr übriggeblieben. Nun sind kleinere Aufträge aber viel zu kostenaufwendig, wenn man damit nach Polen geht. Das ist der Punkt, an dem wir die Sache übernehmen.“ Der Weltmarkt als Ready-made: Jetzt hat Arpacis Firma eine Seite im Internet, auf der nebenbei ein türkisches Reisebüro für den Urlaub in Anatolien wirbt. Etwas weiter unten auf der eigentlich vom Middelburger Kunstverein angelegten Künstler-Homepage finden sich auch Diskussionsforen zu Kierkegaard oder Erich Fromm. Außerdem hat Jens Haaning dort ein paar Cartoons mit Beavis & Butthead abgelegt — und ein Zitat in Anlehnung an Schopenhauer: „Die Welt ist meine Vorstellung“.
Bis 26. 8., Vleeshal, Middelburg/ Holland. Http://ww . Zeelandnet. Nl/vleeshal
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen