Heroische Subjekte der Postmoderne

Bruchstücke aus einem Universitätsklinikum  ■ Von Gabriele Goettle

Mit unförmig verbreiterten Schultern und dem bärenhaft schweren Schritt eines wüsten Gegners betritt ein Mann den Fahrstuhl. Er scheint nachzudenken, hält den Kopf gesenkt und räuspert sich in kurzen Abständen. Dann blickt er fast flehentlich mit waidwunden Rehaugen auf die langsam springenden Leuchtziffern über der Tür.

Wozu ins Theater gehen, wenn es drei Fahrstuhltüren gibt, die sich abwechselnd, mit einem melodischen Bimmeln, öffnen und schließen, aus denen heraus oder in die hinein unentwegt Kranke in unterschiedlichster Verfassung treten und ganz leibhaftig und wuchtig Drama, Tragödie und selbst Tragikomödie verkörpern. Die Darbietungen sind ergreifend, besonders in Zeiten aufgekündigter sozialer Verträge und Errungenschaften.

Der Kranke als Heros ist das wahre Subjekt der Postmoderne. Seine Insuffizienz macht ihn empfindlich und langsam. Als Zerrissener und Umgeworfener fällt er heraus aus dem geschmeidigen Verkehrsstrom der Gesunden, treibt quer, verfängt sich. Inmitten einer komplexen, hochtechnisierten Gesellschaft ist jedes Nicht- auf- der-Höhe-Sein, jede Veränderung ins Krankhafte krasser Rückfall – Schritt für Schritt – in die vertriebene und zurückgekehrte Natur. Und es ist gewiß kein Zufall, daß große Krähenschwärme im Aufwind der abstrahlenden Wärme das Klinikum umkreisen, daß Füchse selbstbewußt und ohne Scheu durch den Park trotten, wohl wissend, daß viele der Kranken, lägen sie auf freier Wildbahn, statt in ihren Betten, keine Chance hätten, etwas anderes als Atzung zu werden. Aber die heldenhafte Tat besteht nicht in der Abwehr von Raubtieren, sondern in Duldungsstarre. In ihr werden Einschnitte, Einstiche, gefährliche Strahlen, die Aufnahme fremder Instrumente und die Einnahme starker chemischer Substanzen tapfer bewältigt von einsamen Helden.

7.45 Uhr im Fahrstuhl, 7. Etage. Abteilungen: Neurologie, Psychiatrie, Gastroenterologie. Drei Personen steigen ein, zwei Männer und eine Frau. Sie verteilen sich mit strategisch zufriedenstellendem Sicherheitsabstand in der großen Fahrgastzelle, und noch bevor die Tür sich schließt, kommt ein Morgengruß über aller Lippen. Einer der Männer ist Mitte 60, trägt einen klassisch gestreiften Frotteebademantel über dem Schlafanzug und ähnelt ein wenig Max Frisch. Er sagt: „Wir wollen uns etwas Lektüre holen zum Frühstück, dann ist es weniger langweilig, nicht wahr?“

„So isset: Ich brauche meine Bild am Morgen, sonst bin ick keen Mensch und det, obwohl die janzen Nachrichten mir hinterher uff die Pfoten kleben, die janze Druckerschwärze, det jeht kaum mehr runter!“ ergänzt der zweite Mann und blickt in seine noch sauberen Handflächen.

„Und was haben Sie für Beschwerden?“ richtet sich der Ältere an die Frau.

Ich blute aus einem Zwölffingerdarmgeschwür, beziehungsweise ich habe geblutet“, antwortet sie ohne Verlegenheit.

Der Ältere wiegt anerkennend den Kopf. Der Jüngere präsentiert, kurz nähertretend, seine beiden blutverkrusteten Nasenlöcher und erklärt: „Ick blute immer nur aus der Neese, seit neustem ...“

„Und ich ...“ sagt der Ältere mit einem ironischen Unterton, „ich habe etwas im Kopf, was da nicht hinein gehört. Am Dienstag bin ich dran ...“

Die Ankunft im Erdgeschoß und das sanft fauchende Aufgleiten der Tür enthebt einer angemessenen Reaktion.

Wie schnell doch in solch einem großen Krankenhaus die gewohnten Schranken der Reserviertheit und auch die zwischen den Klassen vorübergehend außer Kraft gesetzt werden. Es ist wie bei den Hundebesitzern, man trifft aufeinander, wird zueinander hingezogen; an imaginärer Leine vorauseilend die mitgeführten Krankheiten. Sie verstehen sich sofort. Die Leberwerte, der Blutdruck, der Urinstatus, die Schmerzen. Ein Wort ergibt das andere, in der Schlange vor dem Kiosk, in der Raucherecke, im Aufzug, auf den Bänken im Park.

Es gibt im Hause eine repräsentative Halle mit Palmen, Tischchen, Couchen und Clubsesseln, die aussehen, als hätte das amerikanische Offizierskasino sie gespendet, bei der Umtaufung des Klinikums auf den Namen von Benjamin Franklin. Hier wandeln Patient und Besucher gerne hin und her, treten hinaus in den Park oder nehmen auf den großzügigen Sitzgelegenheiten Platz, um auszuruhen. Ein sehr kleiner, dürrer älterer Herr, der offensichtlich nicht zur blonden, korpulenten Familie gehört, die um ihn herum sitzt, schlägt seine Zeitung zu und erhebt sich mühelos aus dem Sessel. Unschlüssig blickt er um sich, schaut auf die Uhr, zögert einen Moment und geht dann ruhelos auf und ab. Er trägt einen altmodischen schwarzen Anzug aus schwerem Tuch, einen gut sitzenden Borsalino und eine etwas zu lange rotgoldene Krawatte. Am auffallendsten aber ist sein Gang, er scheint in einer Art salutierendem Schritt langsam und sorgfältig abgezählte Bahnen zu gehen und dabei unentwegt die Hacken aneinanderzuschlagen. An den Innenseiten seiner schwarzen Schuhe deuten zwei helle aufgeschabte Stellen auf das Gewohnheitsmäßige dieses Gehens hin. Plötzlich bricht er aus seinem Rhythmus aus und strebt, nun fast schon trippelnd, zu einem schlaksigen jungen Mann in grellbuntem Trainingsanzug, umarmt den steif Dastehenden und führt ihn zum Sessel. Ganz vergeblich bietet er Platz an und wartet, bis er sich selbst niederläßt. Gelangweilt und in schlechter Haltung steht der junge Mann, der, wie sich später herausstellt, ein Sohn des alten Mannes ist, neben dem plaudernden Vater und befühlt ab und zu den frischen Verband an seinem Ohr. Der Vater spricht Russisch, der Sohn antwortet einsilbig und in Deutsch. Es geht um einen Hundertmarkschein, den der junge Mann offenbar nicht nehmen will. Der Alte legt ihn auf seine pralle Brieftasche, klopft darauf, reicht sie hinauf, läßt dann nach einer Weile die Arme sinken. Ins Deutsche überwechselnd sagt er in sanft klagendem Tonfall: „Was bist du nur für ein Sohn, beschämst deinen alten Vater, willst kein Essen und kein Geld, sagst immer nur ,Habe alles, habe alles selber‘, warum behandelt mich mein Sohn so?!“ Der Sohn seufzt gequält und antwortet: „Ich bin krank, ich habe Schmerzen, kannst du mich nicht einfach nur in Ruhe lassen?“

Der ältere Mann mit der Geschwulst im Kopf und die Frau mit dem Zwölffingerdarmgeschwür treffen sich wieder im Aufzug, diesmal fahren sie aufwärts. Sie stehen sich gegenüber, er ist sonntäglich gekleidet in dunkler Hose und dunklem Blazer und wiegt in jener Art den Kopf, in der man andeutet, daß es so einigermaßen vorangeht. Ein bißchen ein mulmiges Gefühl vor dem herannahenden Dienstag beschleiche ihn, sagt er und fügt dann entschieden hinzu: „Aber ich sage mir, ich werde mich doch nicht mit einer Angst herumquälen ... und ehrlich gesagt, im Augenblick beunruhigt mich viel mehr, daß ich einen meiner silbernen Wappenknöpfe verloren habe“, er deutet auf die leere Stelle, „und ausgerechnet den, rechte Seite Mitte!“

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„Nehmen Sie doch einen vom Ärmel, da haben Sie doch an jeder Seite vier“, rät die Frau, doch er winkt ab und hält ihr stumm den Ärmel mit den wesentlich kleineren Knöpfen entgegen. Kurz vor dem Aussteigen entfährt der Frau ein an sich ungeheuerlicher Satz: „Am Mittwoch können Sie sich ja statt dessen das Herausoperierte drannähen!“ Der Mann lacht explosionsartig, sein Gesicht jedoch wirkt etwas überrascht vom eigenen Galgenhumor. Immer noch lachend steigt er aus und droht mit dem Finger.

Es scheint so, als würde immer auch der Schweiß- und Blutgeruch eines grade stattgefundenen Massakers in der Luft schweben, irritierend vermischt mit dem Geruch von Desinfektionsmitteln und Bodenglänzer. Rein optisch wirkt alles friedlich und rein. Dennoch: Es gärt, eitert, blutet, staut, ergießt sich, erbricht sich, uriniert, kotet, verkrustet, heilt oder gibt den Geist auf, in diesem Riesenkrankenhaus. Durch das Geflecht aus Fluren, Etagen, Fahrstuhlschächten, Klimaschächten, öffentlichen und nichtöffentlichen Räumen arbeiten sich wild, verworren und dringlich die Keime, unentwegt verfolgt von wischenden Putzbrigaden aus dem Vorderen Orient und Südostasien. Auch die Ärzte, nimmermüde Laufburschen der Apparatemedizin, durcheilen die spiegelnden Flure und Etagen, vorbei an Grünpflanzenarrangements in Hydrokultur-Intensivhaltung, vorwärtsstrebend auf einem unsichtbaren Wildwechsel, immer befaßt mit der Treibjagd auf die Krankheitserreger im Patientenmaterial. Das wiederum ist ebenfalls unterwegs, auf Bahren oder den eigenen Beinen, wartet in Fluren, staut sich vor Kabinen, fragt sich durch zu irgendwelchen Untersuchungen und Behandlungen.

Eine Japanerin mittleren Alters, mit dezenter Eleganz gekleidet, unparfümiert und nicht geschminkt, wartet am frühen Morgen im weiß gekachelten Vorraum auf ihre Untersuchung. Nach einigem Zögern hat sie, den Rock zuvor unter sich ordnend, auf einem der drei hölzernen Wandklappsitze Platz genommen. Und so verharrt sie seitdem, aufrecht und reglos, mit ihren Überweisungspapieren auf den geschlossenen Knien. Die Tür öffnet sich und grußlos tritt, mit der selbstverständlichen Empfindungslosigkeit dessen, der sich hier zuständig fühlt, ein mit Schachteln beladener Pfleger ein. Die Japanerin springt auf und verbeugt sich grüßend, mit einem überaus verbindlichen Lächeln. Der Pfleger, als könne er die einmal begonnenen Bewegungsabläufe nicht mehr umdisponieren, stößt seinen Fuß gegen die Tür mit dem Schild „OP Bitte Schuhe wechseln“ und verschwindet schnell. Die Tür öffnet sich erneut, aber diesmal ist es eine blonde junge Frau im grünen Kittel. Sie umrundet etwas erschrocken die aufgesprungene und grüßende Japanerin, grüßt dann ihrerseits mit einem verlegenen „Morgen“, entnimmt dem Wandschrank einige Infusionsflaschen und verläßt betont geschäftig den Raum. Erst dann hört die Japanerin mit dem Verbeugen auf und nimmt, nicht ohne zuvor ihren Rock unter sich zu ordnen, vorsichtig wieder Platz. Die gleiche Szene wiederholt sich noch einige Male, mit wechselndem Personal, das durch den Raum eilt. Endlich wird die Japanerin aufgerufen. Die Stimme aus dem Lautsprecher zergliedert ihren Namen in vermeintlich japanischer Sprechweise, langsam und deutlich. Bevor die Japanerin zaghaft zur Schwingtür tritt, verbeugt sie sich zum Abschied vor zwei apathisch wartenden Leidensgenossen. Einige Zeit später hört man von drinnen ein geradezu tierhaftes Grunzen, Gurgeln, Würgen. Unanständig und von atemberaubender Heftigkeit.

Ein krebskranker Greis und starker Raucher geht jeden Nachmittag im hinteren Park spazieren und steuert stets auf eine ganz bestimmte Bank am Rosenbeet zu. Er sieht nicht die erbsengroßen Kastanien zwischen den Blättern direkt über sich, auch nicht den wilden Mohn auf der Wiese. Er raucht, jede Zigarette an der anderen entzündend, und starrt mit trüben Augen auf eine einzelne gelbe Rose, die mitten zwischen lauter dunkelroten Rosen steht. Vorgebeugt, seine Ellbogen auf die Knie gestützt, die Kippen mit dem Pantoffel zertretend, sitzt er und fixiert die Blume. Das geht in dieser Weise schon elf Tage lang. Vergeblich hat man ihm geraten, sich doch einfach anderswo hinzusetzen, statt sich immer aufs neue zu ärgern. Am zwölften Tag kehrt er, außer sich vor Empörung, früher als gewöhnlich in die Raucherecke zurück und berichtet, daß der Schandfleck von irgend jemandem ausgerissen worden sei, bestimmt von Unbefugten, denn einen Gärtner habe er nirgends gesehen. Ein paar Tage betritt er den Park nicht. Dann, an einem Sonntag, kehrt er zu seiner Bank zurück, so als ob nichts geschehen wäre.

Die blasse Mittfünfzigerin hat ihre Frischblutkonserve auf dem eigenen Bauch erwärmt. Nun hängen sie am Infusionsständer und Tropfen für Tropfen fällt langsam ins Sammelgefäß, fließt durch den Plastikschlauch in die Vene. Die Frau ist Genealogin und hat eine Bluterkrankheit – nicht die des englischen Königshauses, an der ja nur die männliche Linie erkrankt, aber eine, die dieser sehr ähnelt. Auch ihr fehlt es am Blutgerinnungsfaktor VIII, dadurch ist die Blutgerinnung gestört und die Blutungszeit verlängert sich. Blutungen lassen sich kaum stillen, auch kommt es sehr oft zu inneren Blutergüssen, weil die Gefäßwände so durchlässig sind. Diese Erbkrankheit wurde 1926 entdeckt, erklärt sie. Das Thema wechselnd, kommt sie auf ihren Beruf zu sprechen, der habe nichts mit Sippenforschung, Erblehre und Ahnenpaß zu tun, aber dies sei eben leider der Schatten aus brauner Vergangenheit, der immer noch auf der Genealogie laste. Davon abgesehen, sei diese Forschung spannend und schließlich wesentlich älter als sechzig Jahre. Man werde ganz automatisch zum Historiker, im Laufe der Zeit, beim Studium der Urkunden. Sie bekomme ja nicht nur die neueren in die Hand, sondern ab und zu auch alte, mittelalterliche Handschriften, in Latein sogar, aus Zeiten, als der Julianische Kalender noch galt. Worin aber nun ihre Arbeit genau besteht, deutet sie nur an: „Es geht um den Nachweis von Abstammungsverhältnissen, denn daraus ergeben sich ja eben nicht nur historische oder soziale Aufschlüsse, sondern auch rechtliche Ansprüche. Gerade jetzt, nach der Wende, haben die komplizierten Erbschaftsangelegenheiten sprunghaft zugenommen. Ach, ich könnte Geschichten erzählen, was da für ein Schindluder getrieben wird, wie man mir gefälschte Urkunden vorlegt, gegen die ich nichts unternehmen kann, weil Amtspersonen sie ausgestellt haben – nicht bei uns natürlich! Ich muß ehrlich sagen, allmählich verliere ich die Freude am Beruf und auch an dieser Stadt, ich überlege ernsthaft, ob ich nicht vorzeitig in den Ruhestand gehen und von hier wegziehen soll. Nehmen Sie doch nur mal Charlottenburg, da beispielsweise die Kantstraße, aber auch um den Kurfürstendamm herum, allein wie es da aussieht. Nur Schmutz, Unrat und ein dominierendes kriminelles Milieu. Und für solche Herrschaften soll man dann tätig werden. Sogar ein Russischdolmetscher mußte her, denn auch die deutschstämmigen Herrschaften verstehen kein Deutsch. Die ganze Stadt ist voll von Russen, die es sich hier auf unsere Kosten gutgehen lassen. Großfamilien sitzen in den teuersten Wohnungen und beziehen Sozialhilfe. Daß die natürlich nicht nach Israel wollen – denn die meisten sind ja angeblich Juden –, das ist klar, angesichts der Verhältnisse dort. Ich hörte neulich, daß selbst Israel keinen gesteigerten Wert mehr legt auf die Einwanderung russischer Juden, denn kaum waren sie da, haben sie sofort mafiose Strukturen aufgebaut und das ganze Land durchsetzt damit. So was kannte man dort vorher in dieser Form gar nicht. Ich bin an sich wirklich keine Antisemitin, im Gegenteil, aber sie nehmen eben ganz frech diesen Bonus für sich in Anspruch und kümmern sich ansonsten einen Dreck um unsere Gewohnheiten und Bedürfnisse. Beispielsweise in meinem Haus, da wohnen mittlerweile mehrere Russenfamilien, alles Juden. Die können kein hebräisches Wort lesen. Auch kein deutsches, kennen sich aber mit den Antragsformularen für Hilfeleistungen bestens aus. Mit denen gibt es ununterbrochen nur Ärger. Nicht nur, daß die Kinder lärmen im Treppenhaus und in den Wohnungen, auch der Aufzug wird ständig blockiert – von den Erwachsenen wohlgemerkt, die immer irgendwas Sperriges zu transportieren haben, was ja, nebenbei bemerkt, verboten ist in Personenaufzügen. Nein, wenn ich nicht in regelmäßigen Abständen meine Frischblutkonserven bräuchte, ich glaube, ich wäre schon längst irgendwohin aufs Land geflüchtet.“

30. Juni 22 Uhr und fünf Minuten, das zweite Tor fällt in London, die Tschechen haben das Fußballspiel hiermit verloren, Deutschland ist Europameister. „Geil eh!“ jubelt die stellvertretende Filialleiterin einer Parfümerie von Prenzlauer Berg, und ihre durch Krankheit geschwächte Stimme vereint sich mit den Stimmen der anderen Patienten, Ärzte und Schwestern. Ein einziger gellender Triumphschrei erschallt aus den Bettentürmen des Klinikums, so daß der auf dem Dach schlafende Krähenschwarm in heller Panik auffliegt und lange Zeit an den hell erleuchteten Fenstern vorbei um die Gebäude schwebt.

Seltsam, was so auf Nachttischen steht. Ein junges Mädchen mit einer seltenen Mastdarmerkrankung, wohnhaft in Eisenhüttenstadt, präsentiert folgendes Arrangement: Im Zentrum steht ein Foto im Silberrahmen. Abgebildet ist eine feuerrote Couch, auf der ein junger Mann mit verlegenem Gesichtsausdruck und übergeschlagenen Beinen sitzt. Neben einem Parfumflakon steht ein Väschen mit rosa Nelken, etwas dahinter ein kleines repräsentatives Gesteck mit Plastikumhüllung und Zierschleife, flankiert zur Rechten von einem Harlekin mit Porzellankopf, zur Linken von einem Plüschlamm. Etwas versetzt neben dem Bild steht ein schwarzer Reisewecker und griffbereit eine Flasche Mineralwasser mit Glas, ganz an die Seite gerückt eine teure französische Gesichtscreme und ein Eau de Cologne im Zerstäuber. Das alles ist altarartig nach Bedarf und Bedeutung aufgebaut. Solche Zeichen liebevoller Zuwendung signalisieren jedem, daß die Gleichgültigkeit, die wie der Sand einer riesigen Wanderdüne langsam näherrückt, den Kranken und seine Angehörigen noch nicht erfaßt hat.

Hinter den preßluftgesteuerten Flügeltüren der Stationen warten die Kranken auf die Besserung ihrer Leiden. Zu jeder Mahlzeit nehmen sie folgsam ihre Medikamente ein und verzehren die eintönige Kost, die ihnen auf grauen Plastiktabletts gereicht wird. Zu den vormittäglichen Visiten erscheinen die Ärzte in frischen weißen Kitteln und mit betont dynamischem Auftreten. Ihre Stethoskope tragen sie in amerikanischer Manier um den Nacken gelegt und nicht mehr so, wie es früher üblich war, um den Hals mit dem Hörteil in der Brusttasche. Nach der Häufigkeit seiner Anwendung scheint dieses klassische ärztliche Instrument vorwiegend der Statuspflege und kaum noch der Auskultation zu dienen, überhaupt beschränkt sich die Berührung des Patienten auf ein absolutes Minimum. So muß der sich an das halten, was er bekommt: Worte, Blicke, Verordnungen. Ängstlich hoffend forschen die Kranken in den unverbindlichen Gesichtszügen des Arztes nach einem Zeichen dafür, ob die Krisis sich zum Guten wendet oder nicht. Aber woher soll er es wissen, wenn die Laborwerte noch nicht vorliegen?

Die Frühaufsteherin wandelt täglich um vier Uhr mit ihrem Tauchsieder ins Patientenbad, denn dort ist eine Steckdose. Sie bereitet sich einen Kräutertee und sitzt dann lesend über das kleine Tischchen am Ende des Flures geneigt, bis zum Wecken und Fiebermessen um sieben Uhr. Heute liest sie die Zeit. Eher lustlos. Es fällt ihr fast schwer, die großen Seiten umzuwenden, so geschwächt fühlt sie sich. Sie ist sehr mager, fröstelnd zieht sie den bodenlangen dunklen Morgenmantel vor der Brust zusammen und legt die Zeitung beiseite. „Es ist ungewöhnlich, daß mir so früh schon jemand Gesellschaft leistet“, sagt sie in weichem Süddeutsch und fügt hinzu: „Leiden Sie auch unter Schlafstörungen?“ Sie selbst, so beteuert sie, kann schon seit Jahren nicht mehr schlafen. Zwar ist sie müde am Abend, doch kaum legt sie sich hin und macht das Licht aus, schon wird sie hellwach, gerät fast in Panik und muß aufstehen. Nur manchmal, am Nachmittag, gelingt ihr so etwas wie ein kurzer, traumloser Schlaf. Auch hat sie sehr abgenommen und nimmt weiter ab. Vom Schuldienst spricht sie, in dem sie „steht“, der bis zur Erschöpfung an den Nerven zerrt. „Aber was soll man machen, man muß ja!“ Sie lacht bitter, mit einem kurzen Schnarchlaut am Ende. Ihre Hände begleiten die Rede mit flehentlichen und formenden Gesten. Seit längerer Zeit schon schmeckt ihr keinerlei Essen mehr, sie kann versuchen, was sie will, es schmeckt ihr nichts, sie muß sich fast gewaltsam zur Mindestaufnahme von ein paar Nahrungsmitteln zwingen. Nach mehreren Untersuchungen wurde sie mit zwei Diagnosen bedacht: Ihre Eßstörungen sind genetischer Art. Ihre Eßstörungen sind psychischer Art. Die genetische Variante wird von ihr absolut bevorzugt. Bereits eine Großmutter hatte mit dem Essen Probleme. Psychisch fühlt sie sich außergewöhnlich stark. Vom ersten Mann früh geschieden, hat sie drei Kinder alleine großgezogen, ohne zu klagen. Die drei führen mittlerweile ein selbständiges Leben. Sie selbst ist 53 Jahre alt und hat unlängst neu geheiratet, einen um mehr als zehn Jahre älteren Mann, der aber ausgesprochen rüstig ist. Er ist Veganer, sie leider immer noch Vegetarierin, aber auf dem besten Wege, den Sprung zu schaffen. Sie leben beide sehr gesund und natürlich, und das mitten im Wald. Er schlägt eigenes Holz. Sie trinken aus eigener Quelle ein gutes, weiches Wasser, dort unten in Süddeutschland. Sie sehnt sich nach Rückkehr, hier ist alles so hart und rauh; das Wasser, die Umgangsformen. Deshalb wird sie heute auf eigenen Wunsch entlassen.

Nachmittags holt der Mann sie ab. Mit dem Auto. Anders als erwartet, ist er ein rundlicher, mittelgroßer alter Herr mit sehr gut gemachten künstlichen Zähnen. Er wirkt ganz so, als lebe er in normalen bürgerlichen Wohnverhältnissen. Lediglich die weißen Flaumhaare, die auf seinem glänzenden, gebräunten Schädel steil zu Berge stehen, wirken ein wenig sonderbar. „Das kam so: Als ich mich eines Abends versehentlich zu weit über die Kerze beugte – weil wir ja kein Elektrisches haben –, da brannten mir die paar wenigen Haare, die ich noch hatte, allesamt ab..., und die hier“, sagt er über seinen Schädel streichend, „kamen danach neu. Einfach so.“