„Child Survivors“ – eine vergessene Opfergruppe

■ Den Holocaust überlebten sie als Kinder und Jugendliche, heute sind sie zwischen fünfzig und siebzig Jahre alt. Eine Gruppe traf sich am Wochenende in Berlin

Berlin (taz) – Zum zweiten Mal in Deutschland überhaupt haben sich am Wochenende in Berlin 25 „Child Survivors“ getroffen. „Child Survivors“ – das sind diejenigen Verfolgten, die den Holocaust überlebt und bei der Befreiung 1945 noch Kinder und Jugendliche waren.

In den USA, Australien und Holland finden bereits seit einigen Jahren ähnliche Treffen von „Child Survivors“ statt. In Deutschland jedoch seien die Kinderüberlebenen immer noch eine von der Gesellschaft „vergessene Opfergruppe“, sagt Alexandra Rossberg, Geschäftführerin der Esra, dem einzigen deutschen Beratungszentrum für NS-Verfolgte. Doch gerade diejenigen, die als Kinder und Jugendliche verfolgt wurden, sind häufig besonders schwer traumatisiert. Die meisten von ihnen, so Rossberg, hätten in ihrer gesamten Kindheit und Jugendzeit Repression und Verfolgung erlebt. So mußten viele von ihnen genauso wie ihre Eltern Zwangsarbeit leisten oder wurden deportiert. Auch gibt es Kinder, die in den Konzentrationslagern geboren wurden und dort – meistens ohne Mutter oder Vater – die ersten Lebensjahre verbrachten. Die Zahl der „Child-Survivors“ ist jedoch nicht bekannt.

In von PsychologInnen betreuten Gruppen hatten die heute Fünfzig- bis Siebzigjährigen die Möglichkeit, auf dem zweitägigen Treffen intensiv über ihre Vergangenheit, die Suche nach den jüdischen Wurzeln und über das Leben im Alter zu sprechen. Besonders wichtig war es, andere Kinderüberlebende kennenzulernen. Die TeilnehmerInnen aus allen Teilen der Bundesrepublik, die teilweise zum allererstenmal über ihre Erfahrungen sprachen, bräuchten einen „angstfreien Raum, um sich mitteilen zu können“, sagte Alexandra Rossberg. Ihre MitarbeiterInnen betreuen seit fünf Jahren im Jüdischen Krankenhaus in Berlin Holocaustüberlebende psychosozial.

Kinderüberlebende haben häufig große Probleme mit ihrer eigenen Identität, besonders diejenigen, die aus einer Ehe mit nur einem jüdischen Elternteil stammten. 140.000 solcher Ehen wurden in Deutschland bis 1933 geschlossen. Die Kinder versteckten sich bei Verwandten, nahmen einen anderen Namen und Religion an, um der Deportation zu entkommen. Immer wieder aufkommende Schuldgefühle, „es besser gehabt zu haben“ als andere Verfolgte, sei in Gesprächen und Therapien festzustellen, sagt die Esra-Psychologin Bettina Kaufmann. Als Überlebensstrategie haben deshalb viele versucht, in der Gesellschaft besonders gut zu „funktionieren“. Oft wurde die Verfolgungszeit aus dem Bewußtsein ausgeschlossen und erst im Alter, beim Rückzug aus der aktiven Lebensphase, kämen die lange verdrängten Erinnerungen wieder hoch. Die Folge: heftige Angstgefühle, Scham, Aggression, Schlafstörungen, Erschöpfung. Das tiefsitzende Mißtrauen und das Gefühl der Nichtzugehörigkeit sind, so das Fazit der Veranstalterin, gemildert worden: Das Schweigen, das während der Nazizeit lebrensrettend war, wurde an diesem Wochenende Stück für Stück aufgebrochen. Julia Naumann