Nonchalance und Todesstrafe

■ Die Öffentlichkeit in den USA macht seit kurzem die gleichen Erfahrungen wie Paris, London oder Tokio: Attentate in Serie. Und sie fordert schärfere Gesetze

Bürgermeister Bill Campbell liebt Superlative – vor allem, wenn es um seine Stadt geht. Atlanta sei der „friedlichste“ und „sicherste Platz der Welt“, hatte Campbell in den ersten Tagen der Olympischen Spiele immer wieder verkündet. Tatsächlich war bis dahin der einzig unfriedliche Vorfall die Bemerkung des Bürgermeisters gewesen, all jene, die sich über das chaotische Transportsystem Atlantas beschwert hatten, „als Zielscheiben bei den Schießwettbewerben“ aufzustellen.

Seit Samstag morgen redet Campbell nicht mehr vollmundig, sondern betroffen: „Ein trauriger Tag für Atlanta“. Was über 30.000 Sicherheitsbeamte aus allen verfügbaren Polizeieinheiten und Regionen des Landes sowie Videokameras, Metalldetektoren, Computerschleusen und Hubschraubereinsätze hätten verhindern sollen, ist eingetreten: Nach München ist Atlanta der zweite Austragungsort in der Geschichte der Olympischen Spiele, an dem ein Terroranschlag verübt worden ist. Die hektischen Evakuierungsversuche von drei Polizisten, die den Rucksack mit der Rohrbombe zufällig entdeckt hatten, kamen für die 44jährige Alice Hawthorne zu spät. Ihre 14jährige Tochter wurde mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert. Der türkische Kameramann Melih Uzunyol, der zum Tatort eilte, starb an einem Herzinfarkt. Über hundert weitere Menschen wurden durch die mit Nägeln gespickte Bombe verletzt, die im Centennial Olympic Park, dem gigantischen Vergnügungsviertel, plaziert worden war. Dort, wo man bewußt keine der strikten Sicherheitsvorkehrungen getroffen hatte, weil Atlanta eben auch die „offenste Stadt der Welt“ sein wollte.

Bekenneranrufe oder -schreiben gibt es im Fall des Bombenanschlages von Atlanta bislang nicht. Allerdings hatte die Polizei von Atlanta wenige Minuten vor der Explosion am Samstag morgen um 1.25 Uhr einen anonymen Anruf erhalten. Ein vermutlich weißer Amerikaner „ohne erkennbaren Akzent“ habe „mit ruhiger Stimme“ erklärt, daß innerhalb der nächsten halben Stunde eine Bombe im Centennial Olympic Park explodieren würde.

Hinweise auf Motive gab der Mann nicht. Die Machart der Bombe ließ das Heer von Terrorismusexperten in Talk-Shows spekulieren, daß es sich entweder um einen verrückten Einzeltäter oder um einen oder mehrere Anhänger einer Milizengruppe handelt – aus jenem rechtsradikalen und fanatisch antistaatlichen Spektrum, aus dem die mutmaßlichen Täter des Bombenanschlages von Oklahoma City stammen. Im April dieses Jahres hatte die Polizei zwei Mitglieder der „Georgia Republic Militia“ festgenommen, die laut Anklageschrift Dutzende von Rohrbomben für einen „bevorstehenden Konflikt mit den Vereinten Nationen und anderen Vertretern der Neuen Weltordnung“ bauen wollten (vgl. Beitrag unten). Im Fall des Anschlags von Atlanta gehen FBI und andere Ermittlungsbehörden auch Berichten von Zeugen nach, die in der Tatnacht Skinheadgruppen im Olympic Park gesehen haben wollen.

Für die US-amerikanische Öffentlichkeit ist der Bombenanschlag in Atlanta das jüngste Ereignis in einer Serie von Katastrophen- oder Fastkatastrophenmeldungen. CNN hatte kaum genügend Zeit, von seiner Dauerberichterstattung über den Absturz der TWA-Verkehrsmaschine auf das Attentat in Atlanta umzustellen. Dazwischen mischte sich die Nachricht von der Landung einer Verkehrsmaschine der spanischen Gesellschaft Iberia, die auf dem Weg von Madrid nach Havanna von einem libanesischen Mann nach Miami entführt worden war. Samstag abend, als man sich in Atlanta schon wieder auf den 100-Meter-Lauf konzentrieren wollte, meldete die Nachrichtenagentur AP unter Berufung auf zuverlässige Quellen, daß der Absturz des TWA-Flugzeuges, bei dem am vorletzten Mittwoch 230 Menschen getötet worden waren, „mit größter Wahrscheinlichkeit“ durch eine Bombenexplosion im Frachtraum ausgelöst worden ist.

Newt Gingrich, Abgeordneter aus dem Bundesstaat Georgia, blieb es vorbehalten, den Sportmüden unter den Fernsehzuschauern eine Chronologie der Terroranschläge der letzten Jahre und Monate zu liefern: „World Trade Center, Oklahoma City, Saudi-Arabien ...“ Von Gingrichs ausgeprägter Abneigung gegen Bundesbehörden war am Samstag nichts mehr zu spüren. Dem FBI wollte er an Haushaltsmitteln und gesetzlichen Spielräumen „alles zubilligen, was es braucht“. Das letzte „Anti-Terrorismus“-Gesetz, vom Kongreß vor wenigen Monaten mit großem Beifall verabschiedet und von US-Präsident Bill Clinton mit großem Zeremoniell unterzeichnet, läßt da nichts Gutes ahnen. Es beschneidet in erster Linie die Berufungs- und Revisionswege von Insassen der Todestrakte und erleichtert die Abschiebung von Immigranten.

Gleichzeitig versprach Gingrich den Urhebern der Terroranschläge die Todesstrafe und seinen Mitbürgern die Beibehaltung ihrer individuellen Freiheiten. „Das ist es doch, was es großartig macht, Amerikaner zu sein.“ Ein Olympia-Besucher in Atlanta, vor laufender Kamera nach seiner Stellungnahme zum jüngsten Bombenanschlag befragt, schilderte seine Befindlichkeit etwas anders: „Diese Welt geht doch eh denn Bach runter.“ Sprach's und machte sich auf den Weg zum nächsten Wettkampf.

Diese fatalistische Nonchalance dürfte die Stimmung vor allem der städtischen Öffentlichkeit in den USA recht genau wiedergeben, die in den letzten drei Jahren die gleiche Erfahrung machen mußte wie Paris nach der Serie von Attentaten islamischer Fundamentalisten, Tokio nach den Giftgasattacken einer religiösen Sekte, wie Moskau nach den jüngsten Anschlägen in U-Bahnen und Straßenbahnen oder London nach den unzähligen Bombenanschlägen durch die IRA: Städte bieten mit ihren Menschenmengen und ihrer hochgradig vernetzten Infrastruktur immer mehr und immer bessere Ziele für Terroranschläge.

Was die USA bislang von anderen Ländern unterscheiden, ist der Umstand, daß sie es mit einer vergleichsweise diversen Ansammlung von Tätergruppen zu tun haben, deren technisches Know-how und Logistik eher amateurhaft, aber nicht weniger tödlich ist: kleine Gruppen aus dem wachsenden Spektrum der Bürgermilizen mit ihren Verschwörungstheorien von der bevorstehenden Okkupation des Landes durch schwarze UNO-Hubschrauber, die Bundesregierung und die russische Armee; islamische Extremisten, die, wie im Fall des Anschlags auf das „World Trade Center“, meinen, Gottes Strafe im Zentrum des Bösen auszuführen. Beiden ist zumindest der religiöse Fanatismus gemein. Die einen berufen sich auf die Bibel, die anderen auf den Koran. Andrea Böhm, Washington