Fassungslos vor einem Büschel Haare

Beim internationalen Workcamp in der Gedenkstätte Sachsenhausen arbeiten Jugendliche aus sechzehn Ländern zusammen mit Asylbewerbern. Bei Ausgrabungen stoßen sie auf zerbrochenes Geschirr und Haarbüschel von KZ-Häftlingen  ■ Von Isabel Fannrich

Laut lachend sausen die beiden jungen Radfahrer über die breite Allee der Gedenkstätte Sachsenhausen, dem ehemals nationalsozialistischen Konzentrationslager in Oranienburg. Vor dem Materiallager werfen sie sich ins Gras; die Nacht war kurz. Allmählich trudeln die anderen Workcamper ein, serbokroatische Wortfetzen vermischen sich mit englischen und deutschen.

Als es an die Arbeitsverteilung geht, zieht Tarik aus Bosnien seinen Fuß aus dem Turnschuh und mimt den Verletzten. Seinen Ruf als Faulster der Gruppe hat er längst weg. Campleiter Fritz nimmt es gelassen; die gute Stimmung zwischen den 26 Campteilnehmern aus 16 Ländern geht vor. Schließlich entfernt sich Tarik mit einer Harke zum Unkraut jäten.

Fassungslos hält Hanna aus Nordrhein-Westfalen ein Büschel Haare zwischen ihren Arbeitshandschuhen – verschiedenfarbige Haare von früheren KZ-Häftlingen, die über diesen langen Zeitraum im Boden konserviert blieben. Sie hat sich heute für die Ausgrabungsarbeiten auf dem „Industriehof“ entschieden, wo sich vor 1945 die SS-Werkstätten für Häftlinge befanden. Nun schichten sich hier die Überreste von drei Geschichtsepochen: Die Spuren des Konzentrationslagers wurden zugeschüttet durch den Müll, den zunächst die Sowjetische Militärverwaltung und dann die Nationale Volksarmee der DDR hinterließ. Die Gedenkstätte ist nur an der Archivierung von NS-Funden interessiert: Neben Fetzen von Lederschuhen entdeckt die Inderin Nandita in einer tiefen Grube auch Geschirrscherben mit dem Stempel „SS-Reich 1937“.

Seit 1993 organisieren die „Aktion Sühnezeichen Friedensdienste“ und die Ausländerbeauftragte von Brandenburg, Almuth Berger, das dreiwöchige Camp. Anlaß war der Brandanschlag auf eine jüdische Baracke im Jahr zuvor. „Finanzielle Engpässe schienen den Wiederaufbau zu verhindern. Dieser Untätigkeit wollte Aktion Sühnezeichen etwas entgegensetzen“, sagt Fritz von der Regionalstelle für Ausländerfragen. Seitdem vermessen Workcamp-Jugendliche im Sommer die Fundamente ehemaliger Baracken, ebnen neue Wege und suchen nach den im Boden verborgenen Zeitzeugnissen. Die Geschichte wird, vom Staub befreit, greifbarer – und der Verfall der Gedenkstätte wird aufgeschoben. Doch ist dies keine optimale Lösung, den AmateurarchäologInnen unterläuft auch mal ein Fehler: „Mist, jetzt hab' ich die Schrift verwischt“, flucht Nandita und hält einen gläsernen Fund mit vergammeltem Etikett hoch.

Claude, ein Asylbewerber aus Zaire, wirkt ernüchtert: „Ich wußte vor dem Workcamp nicht, wie schlimm die Konzentrations- und Vernichtungslager des Nationalsozialismus waren.“ Ein Besuch im Haus der Wannsee-Konferenz und das Gespräch mit einem ehemaligen Häftling haben ihm die Augen geöffnet. Das Thema wühlt auf: Der Albaner Elvis empfindet die Bezeichnung „Arbeitslager“ als verharmlosend: „Auch hier wurden Menschen durch auszehrende Arbeit vernichtet, wenn auch langsamer als im Vernichtungslager Auschwitz.“

Aufreibend ist jedoch nicht nur die Auseinandersetzung mit dem Hitler-Reich: Dreizehn Asylbewerber, die in Heimen im Berliner Umland wohnen, arbeiten im Camp mit. Sie konfrontieren die anderen Teilnehmer mit den Erfahrungen, die sie mit deutscher Asylgesetzgebung und mit den Deutschen gemacht haben: lange Wartezeiten auf eine Aufenthaltsgenehmigung, Schwierigkeiten mit rechten Jugendlichen, schließlich die Ablehnung des Asylantrags.

Der Albaner Elvis und Claude aus Zaire wohnen im Asylbewerberheim im brandenburgischen Belzig. Sie trauen sich kaum allein auf die Straße und schon gar nicht ins Jugendzentrum. Elvis hat bei einer Reise nach Trier festgestellt, „daß die Westdeutschen Ausländern gegenüber viel aufgeschlossener sind als die Ostdeutschen“. Auch Claude glaubt, daß letztere sich erst an Ausländer gewöhnen müssen: „In zwanzig Jahren wird die Stimmung ganz anders sein.“

Anders der Russe Wladislaw. Als jüdischer Auswanderer hat er eine unbegrenzte Aufenthaltsgenehmigung, positiv steht er dem Leben in Deutschland gegenüber: „Die Menschen hier sind sehr freundlich.“ Daß er Jude ist, sei für seinen Aufenthalt in Sachsenhausen „nicht so entscheidend“: „Meine Großmutter war die letzte Gläubige in der Familie.“

Auch der Lette Wadim, der als staatenloser Asylbewerber seit über drei Jahren zur Untätigkeit verdammt ist, sucht im Workcamp in erster Linie eine sinnvolle Abwechslung. Er ist den dritten Sommer hier, sondert sich von den anderen jedoch oft ab. „Das lange Warten und die Angst macht viele Asylbewerber krank, stellt Campleiter Mustafa fest. „Hier lernen sie andere Leute kennen und werden gefordert.“ Schade findet er, daß nur vier Deutsche am Camp teilnehmen. Woran das liegt, kann er nicht sagen.

Die Inderin Nandita, die seit ihrem fünften Lebensjahr in Deutschland lebt, wünscht sich eine intensivere Aufarbeitung der NS-Geschichte. „Aber die Motivationen innerhalb der Gruppe sind sehr unterschiedlich.“ Am Sonntag wird sie mit den anderen einen Gottesdienst und im Anschluß daran Oranienburger Familien besuchen. Vielleicht rückt das ihren Eindruck von der Stadt wieder gerade: Vor einigen Tagen wurde sie dort von Jugendlichen, die wie Skins aussahen, als „Schlampe“ angepöbelt.