Norbert und die Mutlinge

Vor Gericht: Fahrkartenkontrolleuren rutscht schon mal die Hand aus, Strafverfahren werden schon mal eingestellt  ■ Von Stefanie Winter

Norbert L. sollte alles unter Kontrolle haben – schließlich ist er Prüfdienstmitarbeiter bei der Bahn und Beamter obendrein. Mit den Fahrkarten und deren Gültigkeit nimmt er es denn auch ganz genau, mit seiner Kundschaft eher weniger. Im vergangenen Jahr soll er zwei Fahrgäste während einer Überprüfung von „Unregelmäßigkeiten“ geschlagen haben. Das Verfahren gegen ihn wegen Körperverletzung im Amt wurde gestern jedoch eingestellt – überwiegend aus organisatorischen Gründen und gegen Zahlung von 2400 Mark.

Auch wenn ein Zeuge – der einzige unabhängige, wie es der Richter formuliert – die Schläge gegen eines der Opfer beobachtet hat, sieht sich der 53jährige Angeklagte eher selbst als Opfer. Die Frau habe ihren Ausweis zurückhaben wollen und ihn fortwährend attackiert. „Hysterisch“ sei die gewesen, diagnostizieren L.s Kollegen. Der Angeklagte habe die Frau nicht geschlagen, sondern „zur Seite gedrückt“. Sie sei dann gefallen, hätte aber nicht fallen müssen, meint ein sachkundiger Kollege. Als sie am Boden lag, kümmerte sich ein Unbekannter um sie, während L. seine schriftlichen Arbeiten erledigte.

Einen Monat später, im September 1995, hat der Angeklagte dann den heute 17jährigen Said A. mit einem Schlag am Kinn verletzt. „Das gebe ich zu“, sagt L. und läßt aus Gründen der Anschaulichkeit seinen linken Arm mit geballter Faust vorschnellen. Es habe A. ein Erste-Klasse-Zuschlag gefehlt und die Bereitschaft, sich auszuweisen. Und dann habe der auch noch nach einem Kollegen getreten. „Der konnte gerade noch den Bauch einziehen.“ Der Kollege weiß von einem Tritt – von hinten – nur aus Erzählungen des Angeklagten selbst. Der Geschädigte kann sich nicht detailliert äußern, da der Dolmetscher arabisch spricht und Said A. dieser Sprache kaum mächtig ist.

Anschließend schickt der Richter die Zeugen in Zimmer 294a, wegen der Erstattung von Fahrtkosten und Verdienstausfall. Und überlegt, was denn für eine Einstellung des Verfahrens spreche und gegen die Vorführung der nicht erschienen ersten Geschädigten und die Vernehmung weiterer Zeugen an einem anderen Tag: L. sei nicht vorbestraft, die Geschädigte habe durch Abwesenheit wenig Interesse an der Strafverfolgung gezeigt, und im Fall des Said A. könnte die Tat „knapp“ als Nothilfe gerechtfertigt sein.

Ein Monatsgehalt in Höhe von 2400 Mark wird L. nun in Raten an die „SOS Kinderdörfer“ zahlen, trotz Bedenken des Staatsanwalts, dem die Summe „sehr hoch“ erscheint. Denn schließlich habe der Angeklagte auch einstecken müssen. Klar, „daß einem da die Nerven durchgehen...“