Zwischen Bombenhagel und fernen Ozeanen

■ Seemannspärchen feiert Eiserne Hochzeit/65 Ehejahre und bremische Geschichte

enn um acht Uhr morgens die Kirchturmglocken läuten, steht bei Ehepaar Müller in der Pflegeklinik Friedehorst das Frühstück längst auf dem Tisch. „So geht das jeden Tag“, stöhnt der 93jährige Willy Müller, der in jungen Jahren als Seemann über alle Weltmeere fuhr. Seit einem Jahr lebt der alte Mann mit seiner 92jährigen Frau Helene in Friedehorst: „Weil sie nicht mehr so auf dem Damm ist.“ Morgen feiert das Seemannspärchen Eiserne Hochzeit: 65 Jahre sind sich die beiden treu und erlebten in dieser Zeit ein Kapitel Bremischer Geschichte.

Vor Haus 10, einem flachen Backsteinbau der Friedehorster Klinik, biegen sich die Bäume im Wind. Das enge Zimmer in dem kleinen Haus mit zwei Betten, Wohnzimmertisch und Schrank koste sie 9.000 Mark im Monat, so Willy Müller. „Essen und zwei Schwestern auf dem Gang für 20 alte, gebrechliche Leute inklusive“, so Müller. „Wenn wir uns das nicht mehr leisten können, müssen wir eben Sozialhilfe drücken gehen“. Einkaufen und Laufen würde der schon etwas tattrige Seemann gerne, „mal was anderes sehen“: Doch bis zum Bus nach Vegesack ist der Weg dann doch zu weit.

Die ganze Welt hat er gesehen: Indien, Persien, Pakistan und Südamerika. Von Ozean zu Ozean, von einem Hafen zum anderen schipperte der gebürtige Bremer als Techniker auf Frachtschiffen über die Meere. Als 22jähriger ging der Mann das erste Mal an Bord, „weil es mich schon immer an die See gezogen hat.“ Vom Bremer Freihafen ging's los: Dort konnten in den Zwanziger Jahren schon größere Frachtdampfer an- und ablegen. Hunderte von Hafenarbeitern schleppten dann Baumwollballen, Reis und jede Menge anderes Stückgut aus Übersee in die staubigen Hafenschuppen an der Kaje. Containerschiffegab es damals nicht, das Stückgut mußte einzeln transportiert, gewogen und ausgemustert werden.

Zärtlich krault der in Findorff geborene Müller seiner kranken Frau die faltige Hand, dicht an dicht sitzen sie vor dem Fenster auf dem plüschigen Sofa. Die beiden lernten sich 1927 vor der alten Schröder-Bank in der Obernstraße kennen - sechs Jahre vor der Machtergrei-fung Hitlers. Willys Freund hatte ihm Helene vorstellen wollen, die bei Schröder als Bankangestellte arbeitete. Vier Jahre später heirateten sie im Findorffer Standesamt.

Immer wieder sticht Müller in See, läßt seine Frau über Monate zuhause zurück. Zwei Jahre später, am 30. Januar 1933 stellen die Müllers mittags ihr Radio an: NSDAP-Führer Adolf Hitler wird zum Reichskanzler ernannt. Wie viele andere Bremer reagieren sie zurückhaltend: Rund 60 Prozent hatten bei der letzten Wahl gegen die Harzburger Front (Hitler, Papen, Hugenberg, Seldte) gestimmt. Am 6. März demonstrieren nationalsozialistische Parteianhänger vor dem Rathaus, bringen an der Rathausfront kleine Hakenkreuzfähnchen an. Das erste Konzentrationslager in der ehemaligen Findorffklinik wird errichtet.

Müllers Augen bewegen sich nicht, wenn er von „dieser Zeit“ spricht. „Nie“ habe er „die Uniform getragen“. Auch den Zweiten Weltkrieg, „ob das Unrecht oder Recht war, wer kann das schon heute noch sagen?“, erlebt er nur aus weiter Ferne, wieder auf See. Denn Frachtschiffe werden für Hitlers „Westfeldzug“ gegen Frankreich, Belgien, die Niederlande und Luxemburg dringend gebraucht.

Im Mai 1940 marschieren deutsche Truppen in die Niederlande ein. Willy Müller bringt mit seiner Mannschaft wichtige Verpflegung nach Rotterdam. So oft wie möglich ruft er seine Frau an, denn englische Flieger starten am 18. Mai 1940 ihren ersten überraschenden Luftangriff auf Bremen – Bombenhagel über dem Findorffer Stadtteil. Helene flüchtet mit ihrem vierjährigen Sohn in einen Luftschutzbunker in der Kirchbachstraße. Um 3.20 Uhr Entwarnung. „Was sollte ich machen, ich wurde auf dem Schiff gebraucht“, erinnert sich Willy Müller.

Die letzten Bunkernächte aber hat er mit seiner Frau gemeinsam erlebt: Am 22. April war Bremen ringsum eingeschlossen. Die Engländer warfen drei Tage lang Bomben ab, Ehepaar Müller verließ den Bunker nicht, der Sauerstoff wurde langsam knapp. Am 25. April dann hielten sie es nicht länger aus und liefen zu ihrer Wohnung: „Die Engländer hatten da gehaust, und der eine Teil der Wohnung war völlig ausgebombt“, erinnert sich Müller, vor allem der Bremer Westen lag in Schutt und Asche.

Der damals 42jährige richtete die Wohnung wieder her und stach bald darauf in See. Frau Helene suchte als Trümmerfrau in ausgebombten Häusern nach brauchbaren Steinen. Damals wußte sie noch nicht, daß sie zehn Jahre später mit ihrem Mann auf große Fahrt gehen sollte: die erste gemeinsame Tour führte sie über Pakistan und Persien bis nach Amerika. Heute kann sich die 92jährige kaum noch an diese Zeit erinnern. „Das macht nichts“, sagt ihr Mann. „Ich habe immer zu ihr gehalten.“ kat