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: Wenn die Weiße Flotte Trauer trägt

„Die Stunde des Verbrechens schlägt nicht für alle Völker gleichzeitig, daraus erklärt sich die Kontinuität der Geschichte“, vermutete Cioran. In Berlin vermuten die Feuilletonisten derzeit, daß gleich mehrere historische Stränge an ihr Ende gelangt sind. Neulich verfaßten schon der rechtskonservative Wolf-Jobst Siedler und der linksliberale Mathias Greffrath zwei schwer melancholisch-pessimistische Grabreden: letzterer auf Westberlin und seine WG-Kultur, ersterer auf tout Europa inklusive der neuen deutschen Hauptstadt.

„Es gibt Zäsuren, von denen man sich nicht erholt“ – Siedlers Grundaussage stimmt seltsamerweise mit den Untergangstheorien des Nürnberg-Marxisten Robert Kurz überein, für den mit dem Zusammenbruch des Ostblocks gleich die ganze Moderne mitkollabierte. Siedler fragt sich: „Sollte es so sein, daß die weltgeschichtliche Stunde Europas in dem Moment ausgespielt ist, da es sich scheinbar wiederherstellt?“

Ihm sitzt dabei quasi die „gelbe Gefahr“ im Nacken, mindestens die ähnlich lautenden Titelgeschichten von Stern und Wirtschaftswoche, aber auch noch Kurt-Georg Kiesingers frühe Warnung „Ich sage nur: Kina, Kina, Kina!“ Sinnlich-materiell wird Siedler dieser topaktuelle Gedanke jedoch – wo sonst? – in Berlin-Mitte: Gerade dort nämlich „...zeigt die jüngste Entwicklung von Shanghai, wo eben jetzt 160 Wolkenkratzer entstehen. Der Potsdamer Platz mag die größte Baustelle Europas sein, in Ostasien würde er gar nicht auffallen.“

Denselben Gedanken hatte ich zuvor ebenfalls in einem Potsdamer-Platz-Artikel geäußert, in dem es mir um die elenden Arbeitsbedingungen der Bauarbeiter gegangen war. In Bangkok, wo ein neuer Lafayette-KaDeWe-Kombi-Komplex alle zwei Monate entsteht, hatte man mir im vergangenen Herbst versichert, daß zumindest den einheimischen Bauarbeitern dort Tariflöhne gezahlt würden, im Gegensatz zu den hiesigen seien sie zudem sehr gefragt.

Als neulich eine hohe thailändische Regierungsdelegation Berlin besuchte, führte sie der Senat zum höhepunktartigen Abschluß ihrer Visite ausgerechnet ins KaDeWe. Solch fortdauernder Überlegenheitswahn ist bereits die politische Probe aufs Exempel für Siedlers traurige Europauntergangsphantasie: „Die Vision einer wiedergeborenen Weltstadt Berlin, die aus dem Umbruch als Metropole Mitteleuropas hervorgehen werde, verkannte die Realität... Spanien hat sich von dem Untergang seiner Armada nie wieder erholt... Zugleich aber wird sich erweisen, daß das alte Deutschland verspielt ist.“

Verspielt hat auch die Alternativkultur in dieser Stadt, wenn man Greffraths „Nachruf“ in der Süddeutschen folgt. Anders als der postpreußische Großraumdenker, der den Baikal-See nicht vom Aralsee unterscheiden kann, verbleibt der Basisgruppen-SDSler jedoch geradezu im streng Empirischen.

Greffrath hatte rechtzeitig und per Telefonkette zu einem Spargelessen auf seinen Schöneberger Balkon geladen, nachdem er zuvor zweimal in Berlin-Mitte zu Spargel-„Arbeitsessen“ eingeladen worden war, wo ihn die Feuilletonchefs und sonstigen Kulturschaffenden mit ihren „Dreitagestoppeln über benutzerfreundlichen Oberflächen“ genervt hatten.

„Das Kostbare in unverschämten Mengen“ hieß dann sein Abschiedstext, in dem er von der Spargelorganisation aus Beelitz auf taz und Tempodrom zu sprechen kam – auf den ihnen gemeinsamen „Projekt“-Begriff, wobei seine Nostalgie aus dem Sparwahn des Senats resultierte: „Ach, wie haben wir sie geliebt, die siebziger Jahre, als man die Möbel von der Straße holen konnte, als einmal, wie in der Theorie, der Wohlstand von oben nach unten tröpfelte.“ Aber ... „fröhliche Menschen in breiten Straßen, das war zu gefährlich“.

Zwar habe ich mir noch nie Spargel aus Beelitz besorgt, dafür aber schon mehrmals weggeworfene Möbel von dort, zuletzt eine komplette lederne Rundtisch- Sitzgarnitur, die in Ferch auf dem Sperrmüll gelandet war. Helmut Höge

wird fortgesetzt