Am Schamgrenzübergang von Carola Rönneburg

Ja, es gibt diese Tage, an denen man beschwingt den Arbeitsplatz verläßt und sogar noch Zeit für einen kleinen Einkaufsbummel hat. An einem solchen Tag wanderte ich vor kurzem gutgelaunt eine belebte Einkaufsstraße entlang. Im Gehen warf ich einen verstohlenen Blick auf mein Spiegelbild in einem Schaufenster. Doch, das sah recht passabel aus. Und an solchen Tagen, registrierte ich erfreut, spiegelt sich das Selbstvertrauen nicht nur im Fensterglas, sondern auch in den Passanten die mich plötzlich freundlich ansahen oder sich nach mir umdrehten.

Zuhause angekommen, stellte ich den wahren Grund für die Aufmerksamkeit fest, die mir zuteil geworden war. Am linken Nasenflügel, vom Schaufenster nicht reflektiert, prangte ein verschmierter grüner Fleck, den ich mir vermutlich in einem Moment von Geistesabwesenheit und ganz bestimmt mit einem Ball-Pentel-Stift selbst beigebracht hatte. Während ich meine Nase schrubbte, schämte ich mich schrecklich.

Wenn Ihnen das gräßliche Gefühl von Schmach und Schande vertraut ist, müssen Sie jetzt nicht weiterlesen. Falls Ihnen aber noch nie der kalte Schweiß ausgebrochen ist, weil Sie sich selbst bei einer Dummheit ertappt haben, sollen Sie wissen, daß ich mich an dieser Stelle genau mit Ihnen beschäftige.

Ich schäme mich nämlich nicht nur für Begebenheiten wie meinen Auftritt als Fehlinterpretin. Ich schäme mich auch, wenn Freunde und Bekannte in eine peinliche Lage geraten, ohne das zu bemerken. Meistens aber schäme ich mich für Fremde, und das geht schon sehr lange so. Wenn zum Beispiel Albrecht Metzger im „Rockplast“ auf die Bühne stieg und sein grauenerregendes „...praudli prisäntz“ in die Menge schmetterte, kaute ich verzweifelt an meinen Fingernägeln. Wir wurden in der Schule trainiert, ein ordentliches englisches „R“ zu rollen, die Aussprache dieses miniplierten Fernsehfatzkes aber verbesserte sich trotz regelmäßiger Auftritte nicht einen Deut. Das war kaum zu ertragen, besonders dann, wenn die Eltern im gleichen Zimmer saßen und amüsiert die Augenbrauen hochzogen.

Ähnlich verhält es sich übrigens heute mit den Fußballern der deutschen Nationalmannschaft, für die ich mich gleich doppelt und dreifach schäme. Erstens, weil sie mittlerweile alle die Nationalhymne mitsingen; zweitens, weil einige von ihnen immer noch Schwierigkeiten haben, den richtigen Text zu singen. Und drittens, weil Fußballer noch unmusikalischer sind als ihre Fans und so unbefangen falsch singen, daß man sie auf der Stelle knebeln möchte.

Leider aber kann man die meisten Peinlichkeiten nicht verhindern. Es reicht nicht einmal aus, in der Nähe zu sein. So weiß ich bis heute nicht, wie ich meinen Nebenmann im Zugabteil davon abhalten kann, frohen Mutes einen schlechten Witz in mindestens zehn Minuten zu erzählen. Ich habe keine Ahnung, wie ich eine angetüterte Tresennachbarin davor bewahren soll, noch mehr von dem, was sie für Erotik hält, in ihre Stimme zu legen. Ich weiß keinen Ausweg, wenn mein bayrischer Nachbar wieder einmal seinen selbstgebastelten Berliner Akzent zum Einsatz bringt. Ich weiß nur: Wenn mir das ohne große Umstände gelänge, dann könnte ich – weil einer das ja tun muß – mich weniger schämen.