Die Politik der Interpretation

Als Ungläubiger denunziert, von seiner Frau zwangsgeschieden, aus Ägypten vertrieben – all das, weil er den heiligen Text des Korans mit modernen hermeneutischen Methoden interpretierte. Der Fall Abu Said, protokolliert  ■ von Nasr Abu Said

Es gibt viele Aspekte der Geschichte von Abu Said. Nehmen wir als erstes den akademischen. Dabei geht es unter anderem um die Notwendigkeit, in jedem Fachgebiet neue Fragen aufzuwerfen, damit es sich weiterentwickeln kann. Ein zweiter Aspekt ist die Frage nach der politischen Bedeutung einer Forschung, deren Gegenstand eine Religion – hier der Islam – ist, die in ihrer langen Geschichte häufig politischer Manipulation ausgesetzt war. Angesichts der herrschenden sozialen und politischen Verhältnisse in der gesamten muslimischen Welt und der Vielzahl politisch-islamistischer Bewegungen wird jede kritische Auseinandersetzung mit islamischem Gedankengut verurteilt, das Leben ihrer Urheber bedroht. Der dritte und letzte Aspekt ist der persönliche. Um den wird es hier nicht gehen.

Abu Said begann seine wissenschaftliche Karriere unmittelbar nach seinem Studium 1972 im Fachbereich Arabische Sprache am Institut für Literaturwissenschaft der Universität Kairo. Ungewöhnlicherweise beschloß das Fakultätskomitee, der neue Assistent solle sowohl für seine Magisterarbeit als auch für seine Doktorarbeit „Islamische Studien“ als Forschungsgebiet wählen. Der Fachbereichsrat Literaturwissenschaft stimmte dem zu.

Dieser Fakultätsbeschluß sollte vor allem Abu Said selbst, der sich nur zögernd mit dieser Spezialisierung abfand, davon überzeugen, daß dringender Bedarf an einem Spezialisten für Islamische Studien bestünde. Abu Saids Zögern hatte einen Grund: die Doktorarbeit von Muhammad Ahmad Chalafallah war im selben Fachbereich 25 Jahre zuvor abgelehnt worden. Chalafallah war damals Assistent. In seiner Doktorarbeit mit dem Titel „Die Kunst des Erzählens im Koran“ hatte er den Koran einer literaturwissenschaftlichen Betrachtung unterzogen, wie sie sein Professor Amin al-Chuli entwickelt hatte. Die Universität hatte diese Doktorarbeit nach hitziger Diskussion der Frage, ob man das heilige Buch der Muslims mit einem solchen Ansatz konfrontieren dürfe, schließlich abgelehnt. Ähnliche Diskussionen hatte es auch schon 1925 nach der Veröffentlichung von Ali Abd al-Rasiks „Islam und die Prinzipien politischer Autorität“ und noch einmal 1928 um Taha Husayns „Präislamische Dichtung“ gegeben.

Nach Ablehnung seiner Doktorarbeit wurde Chalafallah ins Erziehungsministerium versetzt, sein Professor erhielt ein Lehr- und Prüfungsverbot im Fach Islamische Studien. Fünf Jahre später, 1954, zwang ein Regierungsdekret Amin al-Chuly zusammen mit anderen Professoren zur Frühpensionierung. Diese Entscheidung einer neuen Militärregierung, ironischerweise „Freie Offiziersbewegung“ genannt, wurde der Öffentlichkeit als Teil eines revolutionären Prozesses verkauft, dessen Ziel die Ausmerzung von Korruption in der ägyptischen Gesellschaft und die „Säuberung der Universitäten“ sein sollte. Der Lehrstuhl für Islamische Studien blieb unbesetzt, und im Grundstudium lehrte nun jeder Professor, der gerade Lust dazu hatte. Abu Said, dem deshalb klar war, welche Folgen die Anwendung nichttraditioneller Methoden haben könnten, versuchte erfolglos, seine Befürchtungen zu Gehör zu bringen und dem Fachbereichsrat das Risiko zu erklären, das er mit einer Promotion in diesem Bereich eingehe. Das Gremium betonte dagegen noch einmal, wie dringend ein Experte für den lange vakanten Lehrstuhl gebraucht würde.

Schließlich gab Abu Said seinen Widerstand auf und begann mit einer Untersuchung der verschiedenen Interpretationsmethoden, mit denen der Text des Korans bisher betrachtet worden war. Er begann mit dem Begriff der „Metapher“, der von der rationalistischen Theologie der Mutasiliten in die arabische Sprachwelt eingeführt worden war, und schrieb seine Magisterarbeit über den „Begriff der Metapher, angewandt auf den Koran durch die Mutasiliten“. Diese Arbeit wurde 1982 unter dem Titel „Die rationale Exegese des Korans“ in Beirut veröffentlicht (4. Auflage 1996).

Nach vier Jahren intensiven Studiums der Mutasiliten und ihrer Kritiker kam Abu Said zu dem Schluß, daß der Koran damals Schauplatz einer heftigen intellektuellen und politischen Debatte war. Der Kampf fand an einer höchst bedeutsamen Schnittstelle des Korantextes statt (Kapitel III, Vers 7): nämlich dort, wo eindeutige Verse (ayaat muhkamat), die das Rückgrat des Buches darstellen, mit uneindeutigen Versen (ayat mutaschabihaat) konfrontiert werden, die im Licht der ersteren interpretiert werden müssen. Mit diesem Prinzip stimmten die Mutasiliten und ihre Kontrahenten zwar überein, in der Praxis jedoch trennten sich ihre Wege. Die Kontroverse drehte sich sowohl um die Bedeutung des Korans als auch um seine Struktur: Was die Mutasiliten als „eindeutig“ betrachteten, hielten ihre Opponenten für „uneindeutig“ – und umgekehrt.

Dieser intellektuelle Streit war letztlich Ausdruck eines gesellschaftlichen und politischen Kampfes zwischen zwei Weltanschauungen. Abu Said suchte für seine Doktorarbeit deshalb nach einem Interpretationsverfahren, das frei von politischen Interessen war. Er entschied sich zu einer hermeneutischen Untersuchung des Korans innerhalb eines sufistischen oder mystischen islamischen Kontexts. Entsprechend trug seine Dissertation den Titel „Die Hermeneutik des Korans nach Muhi ad-Din Ibn Arabi“. Ibn Arabi, ein berühmter andalusischer Sufi, war in Spanien geboren worden; sein Hauptwerk „Al-Futuhat al-Makkiah“ (Die Offenbarung von Mekka) schrieb er in Mekka; 1279 starb er in Syrien. Im Laufe seiner Arbeit kam Abu Said im großen und ganzen zu dem gleichen Schluß wie zuvor, daß nämlich jede Interpretation von zeitgenössischen sozialpolitischen und kulturellen Faktoren geprägt ist.

Ibn Arabis Ziel hatte darin bestanden, die Interpretation des Korans auf einen Stand zu bringen, der alle historischen und zeitgenössischen Erkenntnisentwicklungen integrierte. Er hatte den Islam als einen offenen Glauben definieren wollen, der mit Christentum, Judentum und anderen Religionen vereinbar ist, sie sogar einschließt. Der Islam sollte die „Religion der allesumfassenden Liebe“ sein, wie sie Ibn Arabi auch in seinen Gedichten beschrieb.

Seine Methodik war dabei deutlich ein Produkt seiner Zeit und der andalusischen Gesellschaft, die damals von linguistischer, kultureller und ethnischer Pluralität geprägt war: Auf der Straße wurde Provenzalisch gesprochen, in den Kirchen Latein, am Hofe klassisches Arabisch und viele lokale Dialekte im übrigen Land. Ibn Arabi wollte diese Elemente und Gruppen miteinander versöhnen. Aber sein Projekt scheiterte natürlich. Denn sein Versuch einer persönlichen Utopie war bereits von den zunehmenden Spannungen und Konflikten innerhalb der Gesellschaft angetrieben, in der er lebte. Abu Saids Thesen zu Ibn Arabi wurden als „Philosophie der Hermeneutik“ 1983 in Beirut publiziert (3. Auflage 1996).

Als Ägypter wurde Abu Said Zeuge ähnlicher Konflikte in der zeitgenössischen religiösen Diskussion über die Bedeutung des Islam, besonders seiner rivalisierenden Interpretationen in den sechziger und siebziger Jahren. In den sechziger Jahren präsentierte der dominante religiöse Diskurs den Islam als eine Religion der sozialen Gerechtigkeit und rief seine Anhänger zum Kampf gegen Imperialismus und Zionismus auf. In den siebziger Jahren, mit ihrer Politik des Friedens und der wirtschaftlichen Öffnung gegenüber Israel, wurde der Islam zur Religion, die das Privateigentum schützte und die Muslims dazu drängte, ihren Frieden mit Israel zu machen.

Langsam begann Abu Said zu zweifeln, ob es aus dieser Sackgasse einer sich ständig pragmatisch verändernden Exegese des Korans überhaupt einen Ausweg gab. Und selbst wenn das praktisch möglich wäre, wie sollte man es zustande bringen können? Obwohl ihm also bewußt war, daß die Interpretation des Korans niemals wertfrei, bar jedes gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Einflusses sein könnte – und es auch nie gewesen ist –, stellte Abu Said den „Begriff des Textes“ noch einmal ins Zentrum seiner akademischen Arbeit.

Resultat seiner Forschungen war ein drittes Buch, „Mafhum al- Nass: Dirasa fi Ulum al-Quran“ (Der Begriff des Textes: eine Studie der Wissenschaften des Korans); es wurde 1990 in Kairo veröffentlicht, danach in mehreren Ausgaben in Beirut und Casablanca. Abu Said erklärte darin, daß vor jeder Interpretation zunächst die Art des Textes selbst definiert werden müsse, das heißt, daß zur Vermeidung willkürlicher Interpretationen zunächst die Regeln untersucht werden müssen, nach denen ein Text analysiert wird.

Das Studium der modernen Hermeneutik hatte Abu Said die Gefahren gezeigt, die von einem religiösen Text ausgehen, der allen möglichen Interpretationen willkürlich ausgesetzt ist. Denn religiöse Texte, und das gilt ganz besonders für den Islam, beeinflussen das gesellschaftliche und kulturelle Leben in hohem Maße. Wissenschaftler, die sich mit solchen Texten befassen, müssen daher sowohl die Grenzen deren absoluter Gültigkeit als auch ihre Interpretationsspielräume definieren – wenn sie nicht zu Sprachrohren konkurrierender Ideologien werden wollen. Damit würden sie nur dazu beitragen, die wahre Bedeutung der Religion völlig zu verzerren: ihre Bedeutung für die Menschen in ihrem diesseitigen und jenseitigen Leben.

Kein Text existiert ohne historischen Kontext. Als Text ist auch der Koran keine Ausnahme und damit ein legitimes Objekt für Interpretationen. In der Tat war ja der Koran im Laufe seiner Geschichte Gegenstand vieler verschiedener Interpretationsverfahren. Abu Said machte sich also daran, diese in ihrem historischen Kontext zu untersuchen.

Festzustellen, daß der Koran ein historischer Text sei, impliziert dabei keinesfalls, daß sein Ursprung menschlich sei. Doch daß Gottes ewiges Wort Muhammad in Arabien im 7. Jahrhundert offenbart wurde, an einem ganz bestimmten Ort und zu einem konkreten Zeitpunkt, macht ihn zu einem historischen Text. Während Gottes Wort in einer Sphäre jenseits menschlicher Sicherheiten existiert, kann ein historischer Text einer historischen und kritischen Interpretation unterzogen werden. Und man kann zeigen, daß heutige religiös- politische Diskurse genau das gleiche machen wie die Mutasiliten, Ascharaiten, Schiiten und Sufis zu ihrer Zeit: ihre verschiedenen Interpretationsmethoden für bestimmte religiös-politische Zwecke nutzen.

Abu Said träumte als Akademiker und Bürger von einer besseren Zukunft für sein Land und dessen Menschen und vom Fortschritt innerhalb der islamischen Welt. Deshalb war für ihn zwingend notwendig, auch den modernen islamischen Diskurs zu untersuchen. Seine kritische Analyse wurde 1992 in Kairo unter dem Titel „Naqd al-Kitab ad-Dini“ (Kritik des islamischen Diskurses) veröffentlicht (3. Auflage 1996). Und mit diesem Buch fingen seine Schwierigkeiten an.

Im Mai 1992 bewarb sich Abu Said im Fachbereich Arabische Studien um eine volle Professorenstelle. Seine akademischen Veröffentlichungen der letzten fünf Jahre, alles in allem elf Aufsätze und zwei Bücher, wurden dem Beirat vorgelegt. Dieser sollte die akademische Qualifikation prüfen und seinen Bericht samt Empfehlung dem Dekan der Fakultät vorlegen. Auch die Professoren des zuständigen Fachbereichs erhielten eine Kopie des Berichts und der Empfehlung, um sich zur vorgeschlagenen Neueinstellung äußern zu können. Das Komitee brauchte für seine Entscheidung fast sieben Monate – statt der üblichen drei. Am 3. Dezember erhielten die Professoren des Fachbereichs den Bericht, der eine Ablehnung Abu Saids empfahl.

Inzwischen war bekanntgeworden, daß diese Entscheidung keineswegs so einstimmig gefällt worden war, wie der Bericht glauben machen wollte. Vielmehr war sie nur mit hauchdünner Mehrheit durchgekommen: sieben hatten dagegen, sechs dafür gestimmt. Außerdem hatten sich zwei der drei zu Rate gezogenen Experten vehement für Abu Saids Einstellung als Professor ausgesprochen. Trotz heftiger Proteste einiger Komiteemitglieder setzte sich jedoch das Minderheitenvotum durch.

Die Entscheidung des Komitees war – wie vieles, was folgen sollte – eine Folge sozialen und politischen Drucks von außen. Die Farce, die sich im Komitee abgespielt hatte und in deren Folge sich die Mehrheit durch eine einzelne Stimme terrorisieren ließ, ist nur mit der Angst zu erklären, die jede Diskussion religiöser Fragen (in Ägypten) heute begleitet.

Aber es wäre nachlässig, nicht auch die persönliche Animosität zu erwähnen, die sich hier, wo es eigentlich um eine objektive, akademische Beurteilung von Abu Saids Arbeit ging, eingeschlichen hatte. Das Urteilsvermögen eines Komiteemitglieds, Dr. Abd al-Sabur Schahin, war durch persönliche Rachegelüste so weit eingeschränkt, daß er nicht nur gegen Abu Saids Einstellung als Professor stimmte, sondern ihn dazu noch als Glaubensabtrünnigen denunzierte.

Stein des Anstoßes war die Einleitung zur „Kritik des islamischen Diskurses“. Darin kritisierte der Autor die sogenannten „islamischen Investment-Gesellschaften“, die als Alternative zu den unislamischen Wucherpraktiken des modernen, westlichen Bankensystems gegründet worden waren.

Nun war Schahin, verantwortlich für die einzige Neinstimme des Expertengremiums, religiöser Berater einer dieser „islamischen“ Institutionen, die 1988 im Zentrum eines großen öffentlichen Skandals gestanden hatten. Da es also implizit auch um seine eigene Reputation ging, versuchte Schahin offensichtlich seine eigene Haut zu retten, indem er diesen Bericht, der eine rein akademische Beurteilung von Abu Saids akademischen Leistungen hätte sein sollen, dazu benutzte, um die Autorität des Autors als Muslim in Zweifel zu ziehen indem er ihn als Apostaten bezeichnete.

Laut Abu Said lag es nämlich nur an der Billigung von Vertretern des „politischen Islam“ wie Schahin – zusammen mit anderen prominenten Repräsentanten des orthodoxen Islam, angeführt vom Rektor der Al-Ashar-Universität, dem inwischen verstorbenen Gad al-Haq Ali Gad al-Haq –, daß diesen Institutionen der größte Schwindel in der modernen ägyptischen Bankengeschichte gelang. Im Vertrauen auf diese Experten und ihre Auslegung des Islam verloren Hunderttausende Ägypter ihr gesamtes Sparvermögen. Während diese Experten nämlich wortreich die Zinssätze der modernen Banken angriffen, gingen die rivalisierenden islamischen Gesellschaften seelenruhig ihren beträchtlichen Eigeninteressen nach.

Abu Saids einführende Bemerkungen mußten daher auf Schahin wie ein rotes Tuch wirken. Sein „akademischer“ Bericht bezog sich weder auf die darauffolgenden Kapitel der „Kritik des islamischen Diskurses“, noch setzte er sich mit der Methodologie des Autors auseinander. Nachdem sie seinen Bericht gelesen hatten, protestierten die Professoren des Fachbereichs aufs schärfste. In einem Brief an den Dekan, in dem sie Abu Saids Einstellung forderten, kritisierten sie sowohl den Inhalt als auch den Ton des Berichts.

Schahin habe weder mit der akademischen Forschung Schritt gehalten noch sich mit neueren theoretischen Entwicklungen wie der Semiotik vertraut gemacht. Außerdem habe er das Gesamtwerk Abu Saids entweder nicht gelesen oder zumindest nicht in Betracht gezogen. Das Komitee des Fachbereichs folgerte einstimmig, daß Schahin, da er keine objektive, akademische Beurteilung vorgelegt und statt dessen eine dogmatische Frage aufgeworfen habe. Schon die Sprache zeige, daß er in seinem Bericht ein Urteil weniger über Abu Saids akademische Fähigkeiten als über dessen Glauben gefällt habe.

Der Höhepunkt der Auseinandersetzung im akademischen Bereich war erreicht, als alle Dokumente bezüglich Abu Saids – der Bericht des akademischen Komitees, der eine Einstellung ablehnte, die Meinung des Fachbereichs zugunsten Abu Saids und die Zustimmung der Fakultät hierzu – dem Präsidenten der Universität von Kairo zur letzten Entscheidung vorgelegt wurden.

Und noch einmal siegte intellektueller Terrorismus über Gerechtigkeit. Da der Präsident um jeden Preis eine Konfrontation mit den Islamisten vermeiden und einem Konflikt mit der Regierung aus dem Weg gehen wollte – der er, wie jeder Universitätspräsident, seinen Job verdankte und die zu jener Zeit gerade einen Verständigungskurs mit den Islamisten eingeschlagen hatte –, beschloß Dr. Ma'mun Salama die Affäre als einen alltäglichen Fall von Nichteinstellung zu betrachten und nicht als eine Bedrohung akademischer Werte und Freiheiten. Einfacher – und sicherer für alle Beteiligten – sei es, urteilte er, Abu Said zu raten, es „später noch einmal zu versuchen“, wenn die Bedingungen für seine Einstellung günstiger seien, das heißt lieber keine Konfrontation mit den Islamisten an der Universität zu riskieren und den Kompromißversuch der Regierung nicht zu stören.

Dr. Salama hätte sich nicht schlimmer irren können. Er bewahrte Abu Said nicht vor dem Zorn der Islamisten, und die akademische Freiheit samt der Reputation der Universität Kairo erlitten einen schweren Rückschlag. Nur zwei Wochen nach der Entscheidung, Abu Said die Anstellung als Professor zu verweigern, benutzte Schahin die Kanzel einer zentralen Kairoer Moschee, um Abu Said öffentlich zu einem Abtrünnigen zu erklären. Das war am Freitag, den 2. April 1993. Am darauffolgenden Freitag verbreiteten dann alle Moscheen Ägyptens diese Erklärung, darunter auch die kleine Moschee in Abu Saids Heimatdorf. Mit deren Prediger war Abu Said aufgewachsen und hatte mit ihm dieselbe kuttah – die traditionelle Koranschule – besucht, wo sie gemeinsam den Koran auswendig gelernt hatten. Für ihn, wie für viele andere, war Schahin eine verläßliche Autorität, die nicht hinterfragt werden konnte. Und hatte sich nicht selbst die Universität hinter ihn gestellt, indem sie seinem Urteil gefolgt war?

Es bedurfte nur einer einzigen Person, so schien es, um eine haßerfüllte Kampagne in Gang zu setzen, eine Kampagne nicht nur gegen ein Individuum namens Abu Said, sondern gegen die gesamte intellektuelle Tradition, die in seinem Werk vorgestellt wird. Aber selbst das hätte nicht zwangsläufig zu den Ereignissen führen müssen, die bald darauf folgten, hätten wir nicht einen Punkt erreicht, an dem bestimmte Individuen als unantastbar gelten: Männer, über die Gott selbst die Hand hält und sie vor Irrtümern und gegenüber dem Gesetz schützt.

Es sind die, deren Verständnis und Erklärung von Religion eine nahezu heilige Autorität besitzt, ganz einfach deshalb, weil sie sich an alte Meinungen klammern, nichts hinterfragen, sondern nur endlos wiederholen, was seit Jahrhunderten wiederholt worden ist. Dieser intellektuelle Stillstand erleichtert es ungemein, jeden frischen Wind in Form neuer Erklärungen oder Interpretationen von Religion als blasphemisch zu brandmarken. Als Beweis für die Abtrünnigkeit reicht der Nachweis, daß nichttraditionelle Methoden der Analyse benutzt worden sind.

Nachdem Abu Saids Renegatentum von den Kanzeln verkündet worden war, war der nächste Schritt, dies vor Gericht zu beweisen. Der Plan dazu wurde in einer Moschee nahe der Pyramiden ausgeheckt. Ihr Prediger, der mit Schahin zusammen im Dar al- Ulum lehrt und sein Anhänger ist, schlug vor, die Sache vors Familiengericht zu bringen. Seine Argumentation war, daß die Ehe von Abu Said und seiner Frau Dr. Ibtihal Junis, außerordentliche Professorin für Französisch in der Fakultät ihres Mannes, annulliert werden könne, da nach islamischem Gesetz eine Muslimin nicht mit einem Abtrünnigen verheiratet sein dürfe.

In einem Buch, das kostenlos an Abu Saids Studenten an der Uni verteilt wurde, schrieb Schahins Anhänger, daß er den Dekan vom Dar al-Ulum und einen früheren Kulturminister und heutigen Professor um Rat in dieser Sache befragt habe. Nachdem sie ihren Segen zu diesem Vorhaben gegeben hatten, boten sich islamistische Anwälte kostenlos an, und man sammelte öffentlich Geld, um die Prozeßkosten zu decken.

Abu Saids Gegner machten von Anfang an klar, daß ihnen der Ehestand von Abu Said nicht so wichtig war; vielmehr ging es darum, seine Abtrünnigkeit gewissermaßen staatlich bestätigt zu bekommen. Hierfür machten sie Gebrauch von einer Gesetzeslücke im Familienrecht – das ansonsten vollständig in das säkulare ägyptische Rechtssystem integriert ist –, wonach zivilrechtliche Fragen nach islamischem Recht (hisba) verhandelt werden können. Unter Hinweis auf einen jahrhundertealten Präzedenzfall islamischer Rechtsprechung, der zufolge die Ehe zwischen Muslim und Nichtmuslim verboten ist, beantragte eine Gruppe islamistischer Rechtsanwälte die Scheidung Abu Saids von Ibtihal Junis. Ein entsprechendes Urteil würde Abu Saids Status als Abtrünnigen bestätigen und seinen Gegnern erlauben, seine Entlassung aus der Universität zu fordern.

Am 15. April 1993 verlangte die angeblich „moderate islamische Wochenzeitung al-Liwa al-Islami, eine Gründung der Nationaldemokratischen Partei als Sprachrohr gegen religiösen Extremismus und Terrorismus, in einem wütenden Kommentar vom Universitätspräsidenten, den „Häretiker“ Abu Said, der den Glauben seiner Studenten bedrohe, zu entlassen. Eine Woche später erklärte dasselbe Blatt der Regierung, daß „Exekution“ die einzig angemessene Strafe für Abu Said sei und daß sie mit sofortiger Wirkung das islamische Strafgesetz anwenden solle.

Gleichzeitig verkündete Scheich Muhammad al-Ghasali (eine führende Autorität für Islamisten seit dem Prozeß gegen die Attentäter von Farag Foda), es sei Pflicht jedes Muslims, selbst die Strafe zu vollziehen, falls der Staat seiner religiösen Pflicht nicht nachkomme. Heimliches Ziel der Islamisten war, Abu Said im Namen des Islam ganz legal ermorden zu lassen.

Am 27. Januar 1994 entschied der Richter des Familiengerichts in erster Instanz, daß der Fall nicht angehört werden könne, da der Kläger keine ausreichende persönliche Schädigung durch Abu Said nachweisen könne. Gegen das Urteil wurde Revision eingelegt, die Entscheidung widerrufen. Die Islamisten hatten geschafft, Abu Saids Abtrünnigkeit bestätigen und seine Ehe offiziell annullieren zu lassen.

Abu Said legte vor dem höchsten ägyptischen Revisionsgericht Widerspruch ein. Noch ist kein Urteil ergangen. Und nach dieser Entscheidung gibt es keine weitere Möglichkeit der Revision mehr.

Sein Fall hat breiten Protest in der Öffentlichkeit ausgelöst und durch Medienberichte und internationale Menschenrechtsorganisationen weltweit Aufmerksamkeit erlangt.

Inzwischen jedoch haben Abu Said und Ibtihal Junis einen hohen Preis dafür gezahlt, daß sie ihre Gegner vor Gericht brachten und sich gegen eine Manipulation des Islam zur Wehr setzten. Sie sind aus Ägypten geflohen und haben ihr Land, ihre Heimat, ihre Studenten und ihre Kollegen verloren.

Nasr Abu Said hat diesen Artikel in der dritten Person über sich selbst geschrieben.