Im Jammertal der Integration

Strategisch verortet und theoretisch abgesichert – ein Reigen schwarzer Leichen mit furchtbaren Close-Ups, Hamburger fressenden Cops und vielen, vielen Drogen: „Clockers“, der neueste Film von Spike Lee  ■ Von Harald Fricke

Als „Clockers“ auf der letzten Biennale in Venedig lief, lag zur Premiere ein Blatt mit Statements von Spike Lee vor. Er machte die Sache recht kurz: Ja, das Drehbuch von Richard Price („Fatal Attraction“) habe zwei Millionen Dollar gekostet; ja, als afroamerikanischer Filmemacher würde er schwarze Schauspieler bevorzugen, so wie auch Fellini am liebsten Italiener inszenierte oder Kurosawa Japaner; und ja, man könne ihn als jung, zornig und schwarz charakterisieren, auch wenn das immer nur wieder eine Verbeugung vor den Stereotypen der Weißen wäre.

Solcherart strategisch verortet und abgesichert, beginnt der Film mit einem Reigen schwarzer Leichen, furchtbare Close-Ups, die Spike Lee auf der Grundlage von Polizeiberichten hat nachstellen lassen. Die Todesschüsse variieren, mal liegen die blutverschmierten Opfer auf der Straße, dann im Bett, auf dem Sofa oder über das Lenkrad ihrer Limousinen gebeugt, das Hirn klebt am Polyester-Baldachin. Ein Jugendlicher wurde direkt zwischen Klettergerüsten auf dem Kinderspielplatz exekutiert. Wie die zwischengeschnittenen Graffitis sind es Ikonen des Ghettolebens, „Clockers“ eben, kleine Drogendealer; und die willkürliche Abfolge läßt erahnen, daß Lee diese schnelle Reihung beliebig fortsetzen könnte. Auch am Ende des Films wird eine Bahre abtransportiert, die weißen Cops knabbern Hamburger oder witzeln am Tatort, und niemand hat etwas gesehen. Diesen schweigsamen Niemand spielt Spike Lee selbst, schließlich geht's um das Dilemma seiner Nachbarschaft: „Es wäre falsch, zu glauben, daß hier jedes Kind drogensüchtig und jedes Mädchen schon mit 13 Jahren schwanger ist. Wir wollten die menschliche Seite dieser Leute zeigen – etwas, das man nicht gerade in den Sechs-Uhr-Nachrichten zu sehen bekommt.“

Statt dessen verhält sich das Ganze wie eine Negativfolie zu den Blaxploitation-Filmen der siebziger Jahre, in denen Hustler und Pimp stets als Figuren mit mächtigem Überlebenswillen stilisiert wurden. Bei Lee ist von diesen Old-School-Antihelden nur ein aidskranker Ex-Drogenboß übriggeblieben, der wirres Zeug schwafelt und wild mit den Augen rollt – ein welkes Klischee vergangener Tage. Doch auch die Opfer sind nur Produkte, Endpunkte einer Kette von Symptomen, die sich vom Heroinhandel der frühen Black Panther über Hardcore-Rap und angewandtes HipHop-Gangstertum bis zum sozialen Frust erstrecken.

Das elende Individuum ist bei Lee nie ohne einen üppig weitgestreuten gesellschaftlichen Rahmen zu haben, in dem sich neben Klassen-als-Rassenkampf und dem Selbsthaß auf die verlorene afroamerikanische Identität immer stärker auch interne Verschleißerscheinungen der Community abzeichnen. Den nächsten Generationen fehlt es an Solidarität, mehr noch als Crack macht Nintendo einsam, und MTV. Dabei ist „Clockers“ trotz all seiner brechtisch verfremdeten Passionsspielhaftigkeit wie ein klassisch komponierter Krimi angelegt. Der große Bruder landet im Knast, um seinen kleinen Bruder vor Dummheiten zu bewahren, worauf dieser sich arg mit dem Gewissen abplagt. Ein noch kleinerer Bruder funkt dazwischen, weil er Anerkennung sucht. Und Muttern muß die ganze Familie zuletzt wieder herausholen aus dem Schlamassel. Soweit stimmt der Lauf der Dinge: Ein Crack- Dealer wird auftragsmäßig erschossen, die Mordkommission nimmt schon wenige Stunden später einen Verdächtigen fest, der den Mord sogleich gesteht. Er war müde, es war Alkohol, wenn nicht gar Notwehr, gibt Victor (Isaiah Washington) verlegen zu Protokoll. Doch das klingt hilflos wie ein zusammengestammeltes Stück „Naked Lunch“, und so muß Rocco Klein alias Harvey Keitel als good Lieutenant im Dienst der Wahrheit zurück auf die Straße.

Langsam rekonstruiert Spike Lee in weich gezeichneten Dokumentarszenen frisch aus dem Method-Actors-Handbuch Victors Biographie – ein schwarzes Leben als Kleinbürger. Mal läßt er sich von einem Halbstarken anpöbeln, der ihn für einen angepaßten Pinsel hält; mal bittet er ein paar Dealer freundlich, statt in seinem Schnellimbiß doch auf der Straße weiterzudealen. Stets scheint er sich im Jammertal der Integration die Tränen verkneifen zu müssen. Bruder Strike, für dessen Rolle Spike Lee mit glücklicher Hand einen schmollenden Newcomer names Mekhi Pfifer ausgewählt hat, steigt derweil im Ghetto auf, denn so sind die Regeln des Dschungelkapitalismus in Amerika. Als rechte Hand des obersten Crack- Dealers bekommt er ein schwarzes Sportcoupé geschenkt und mag doch lieber mit seiner Modelleisenbahn spielen. Irgendwann holt er den zwölfjährigen Nachbarjungen Tyrone (noch ein Kindertalent: Pee Wee Love) zu sich, und schon sitzt der Hänfling mit kahlrasiertem Kopf am Tisch und muß den Profit für ein Pfund Kokain ausrechnen.

Während in „Mo Better Blues“ jüdische Clubbesitzer edle Jazzmusiker ausbeuteten, „Jungle Fever“ gegen die Vermischung von Schwarz und Weiß ins Feld zog und „Crooklyn“ die Familie heim zur Tante im Süden führte, heißt die Devise von „Clockers“: Wir haben das Drogenproblem nur von unseren Vätern geerbt – und müssen ihre Fehler doch wiederholen, weil sie längst im Knast sitzen, aus der Stadt verschwinden mußten oder tot sind. So tritt Rodney (Delroy Lindo) zwar wie ein besorgter Vater auf und will aus seinen Schützlingen doch bloß eine „Armee“ rekrutieren, die den Stoff vertickt und Abtrünnige im Stile einer, wie er sagt, von Gott gesandten Mafia erledigt.

Heiße Hölle Christentum – mitunter verkümmern die Beteiligten unter den angeschlagenen Thesen zu eher düsteren Belegexemplaren. Dann rappen die Jungs von der Straße über das Für und Wider der Gewalt wie ein griechischer Chor, und der tragische Held Strike versinkt in der Fatalität seines zielstrebig niedergehenden Alltags. „Ich krieg' Magengeschwüre von dem Scheißjob“, greint er bereits zu Beginn des Films. Daß er später tatsächlich mit Blutungen auf der Intensivstation zurechtgeflickt wird, zeigt Lee nicht. Zu fremd wäre alles Menschliche auf dieser Höllenfahrt, an der immerhin auch Martin Scorsese mitproduziert hat. So geht selbst ein Dauer-Cop wie Harvey Keitel als herzliches Wesen inmitten von Brooklyn durch. Statt zu schießen will er sich bloß einfühlen, doch keiner dankt es ihm. Spike Lee arbeitet inzwischen am nächsten Projekt: Ein Film zum Million- Men-March, frei nach Louis Farrakhan, aber mit Musik von Curtis Mayfield.

„Clockers“. Regie: Spike Lee, Drehbuch: Richard Price. Mit Mekhi Pfifer, Isaiah Washington, Delroy Lindo, Harvey Keitel u.a. USA 1995, 129 Minuten