Schwarze Wandermärchen

Gewalt im Kino (IV): Der Junge, der nach häufigem Genuß von „Freitag der 13.“ auf Cousine und Nachbarin losging, ist zugleich Teil einer Revolte und ihrer Unterdrückung  ■ Von Georg Seeßlen

Das Kino ist ein seltsamer Ort. Es ist dunkel, und du bist unbeweglich, friedfertig wie ein noch ungeborenes Kind. Und oben auf der Leinwand ist die Hölle los. Das unterscheidet das Kino so stark von einem Rockkonzert oder einem Fußball-Match. Du hast keinen Körper mehr. Du duckst dich gerade mal, wenn ein Messer auf dich zugeflogen kommt, oder versuchst, die Augen zuzumachen, wenn der Kerl mit der schwarzen Maske sein Messer durch die Kehle der Frau zieht und das Blut wie bei einer merkwürdigen sakralen Angelegenheit quillt. Das Schöne und das Furchtbare der Gewalt im Kino ist, daß man sie auf eine so andächtige Weise sieht.

Ins Kino, weißt du noch, bist du in der Regel entkommen. Vor der Gewalt, was sonst. Vor der elterlichen Gewalt, der Erziehungsgewalt. Du bist zu einem Ort gekommen, der merkwürdigerweise so viel Geborgenheit wie Aufruhr versprach. Du warst sicher, und du hast von der Rache geträumt. Oder wenigstens von Gerechtigkeit. Die kriegt man nicht, wenn man nicht mit Fäusten, mit Schwertern, mit Revolvern oder mit Laserstrahlen umgehen kann.

Ein schaurig-schönes mythisches Bild

Woran erinnert uns das? All die Heiligen, die von Pfeilen durchbohrt, von Ketten geschunden und von Peitschen geschlagen einen Blick vollkommenen Glücks haben! Und das Licht, das sie hervorhebt und schon wegträgt. Oder dieser mehr oder weniger schöne Jüngling, der da am Kreuz hängt, Nägel durch die Fußknochen getrieben, eine klaffende Wunde auf der Brust, und die Dornenkrone, die ihm ins Fleisch drückt. Im Zentrum unserer Kultur steht ein schaurig-schönes Bild zugleich sadistischer und mythischer Gewalt.

Was zwischen der Gesellschaft und den beschleunigten Bildern passiert, die sie produziert (Bilder der Gewalt und Bilder, die selber Gewalt ausüben), wird zugleich verborgen und verhandelt am Beispiel des Jugendlichen, der von der Gewalt der Bilder angestachelt selber zum Gewalttäter wird. So entsteht das mythische Bild eines Jugendlichen, der zugleich Opfer der beschleunigten und barbarisierten Bildproduktion ist und Täter. Der Junge, der sich immer wieder „Freitag der 13.“-Videos anguckt und dann Cousine und Nachbarin mit der Axt zu ermorden trachtet, das Pärchen, das sich ein halbes dutzendmal „Natural Born Killers“ und eine nicht unerhebliche Dosis LSD reinzieht, um sich dann, irgendwo auf einer Fahrt durch die amerikanische Provinz, in Mickey und Mallory zu verwandeln und aus Spaß mit der Smith & Wesson mordet und verletzt: schwarze Wandermärchen des Medienzeitalters, die schneller erzählt sind, als sich die Gesellschaft die Mühe macht, ihre verlorenen Kinder genauer anzusehen.

Ästhetisch gesprochen ist Gewalt die Zerstörung der geschaffenen oder gewachsenen Form. Nie wieder habe ich ein so „namenloses“ Grauen empfunden als bei dem Verkehrserziehungsfilm, bei dem die Puppe eines kleinen Mädchens von einem Lastwagen überfahren wurde und knirschend zerbarst. Auch die Revolte gegen die Objekte ist durchaus zweischneidig; sie ist Teil der Revolte und Teil der Unterdrückung.

Die Flucht aus den Widersprüchen in die Bilder freilich erweist sich immer wieder als fatal, denn je schneller sich die Virtualisierung der eigenen Lebenserfahrung abspielt, desto dringlicher wird die Gewalt als letzte Authentizitätsreserve. Hinter dem Kampf gegen die gewalttätigen Bilder verbirgt sich vielleicht ein Kampf der Gesellschaft gegen die eigene Jugend.

Der Mythos ist ein seltsamer Raum. Er ist nicht von Erkenntnis und Interesse gebildet, sondern von Sinn und Größe. Deshalb gibt es im Kino die Banalität des Bösen höchstens aus Versehen. So wie es den alltäglichen Schmutz, aus dem die alltägliche Gewalt kommt, nur als Dekoration gibt. Dieselbe schmutzige Straße in New York, in der man möglichst mit niedergeschlagenen Augen geht, schnell und froh, wenn nichts geschieht, wird auf der Leinwand zur Bühne existentieller Dramen. Jetzt kann ich die Augen wieder aufschlagen, jetzt macht die Gewalt Sinn. Der kleine Überlebenskampf wird zum großen Weltdrama.

Mein liebender, brutaler Held

Ich wollte ein Märchen und bekam Propaganda: Ich wollte im Mythos aufgehoben sein, und ich bekomme Feindbilder. Ich gehe mit Verzweiflung ins Kino und komme mit Haß wieder heraus. Wenn es ihm schlechtgeht, verwandelt sich das Kino in eine Faschisierungsmaschine.

Die Liebe ist ein seltsames Spiel. Was man im Kino lernen kann, unter anderem, ist, daß das Gegenteil von Gewalt nicht die Friedfertigkeit ist. Da ist das Kino von der Kirche weit entfernt; es gibt sich selten damit zufrieden, durch Gewaltbilder Lämmer und Heilige zu erzeugen. Das Gegenteil von Gewalt ist die Liebe. Deswegen beginnt eine Kinogeschichte beinahe immer mit der Destruktion einer Liebesgeschichte. Die Gewalt meines Helden ist Ausdruck seiner Enttäuschung in der Liebe. Wir „verstehen“ Dirty Harry, weil wir am Anfang erfahren, daß seine Frau ihn verlassen hat, und wir verstehen Jamie Lee Curtis in „Blue Steel“, die eine Polizistin mit einer sehr großen Pistole werden muß, wenn wir ihren Vater sehen, und ahnen, daß das, was er ihr angetan hat, die Liebe nachhaltig zerstört hat. Wir verstehen aber auch, daß ein Junge und ein Mädchen, die einfach nur Sex haben und sich nicht lieben, genau das Buch aufschlagen müssen, aus dem die grausamen Dämonen kommen, die mit den geöffneten Körpern, die auch deinen und meinen Körper öffnen wollen. Und Jason, Freddy Krueger, all die Maskenmörder und Schlitzerkids sind Früchte der Nichtliebe, die in endlosen brutalen Serientaten auf alle erdenklichen Weisen versuchen, die Liebesakte, Geburtsakte, Todesakte zu simulieren; die Mörder in Filmen wie „Schweigen der Lämmer“, die Kannibalen, Philosophen und Mädchenmörder, die sich aus der Haut ihrer Opfer eine neue Identität schneidern wollen: Die Unordnung, der sie ihr blutiges Tun verdanken, ist mit dem Wort „Gewalt“ gar nicht mehr zu beschreiben. Sie reagieren, vielleicht, auf ein wirkliches Problem, dessen Teil sie, die mediale Gewalt überhaupt, auf einer höheren Ebene auch wieder sind: das Verschwinden des Subjektes.

Weder mein Besitz und meine symbolischen Dinge (die durch Gewalt, Stufe 1, zerstört werden), noch meine soziale und familiäre Identität (die durch Gewalt, Stufe 2, vernichtet wird), noch meine seelische und körperliche Geschlossenheit (die durch Gewalt, Stufe 3, gewaltsam geöffnet wird) garantieren mir länger mein Selbsterlebnis als autonome Person und handelndes Subjekt. So ist es kein Wunder, daß eben jener Gewaltfilm, der am meisten gefürchtet wird, das „Horrorvideo“, das im medialen Wandermärchen den Jugendlichen selber in einen der Dämonen verwandelt, von denen er da zu träumen scheint, in einer Welt der geöffneten Leiber und der halblebenden Nichtsubjekte spielt. Statt einander zu lieben, vermischen sie sich. Statt zu zeugen und zu gebären, zerfließen sie. Aus dem weißen Rauschen der Fernseher schwemmen sie in die Bürgerwohnungen und lachen böse.