Ab heute hat jedes dreijährige Kind das Recht auf einen Kindergartenplatz - theoretisch. In der Praxis gibt es jedoch in Stadt und Land, Ost und West große Schwierigkeiten, vor allem für die Eltern. Manche von ihnen initiieren aus diesem Gr

Ab heute hat jedes dreijährige Kind das Recht auf einen Kindergartenplatz – theoretisch. In der Praxis gibt es jedoch in Stadt und Land, Ost und West große Schwierigkeiten, vor allem für die Eltern. Manche von ihnen initiieren aus diesem Grund eigene Kindergärten

Auf die Kitaplätze, fertig, los!

So wie Petra Kuhlmann (32) geht es vielen Müttern. Sie wohnt auf dem Land, in einem Dorf bei Bielefeld. Ihre Tochter Jennifer ist vier und geht in den Kindergarten im Nachbardorf, von acht Uhr bis mittags um zwölf. Sohn Dennis ist zwei. Im Oktober wird er drei, aber das nützt seiner Mutter herzlich wenig. Denn die Kindergartenplätze werden im August vergeben, und da hat der dann noch Zweijährige keine Chance.

Also geht er in eine Spielgruppe. Seitdem bringt Petra Kuhlmann Jennifer etwas später in den Kindergarten, damit sie auch Dennis pünktlich um neun abliefern kann. Mittags lädt sie erst den Sohn, dann die Tochter ins Auto, freie Zeit für die Mutter: zwei Stunden. „Völlig klar“, sagt Petra Kuhlmann, „daß ich nicht arbeiten gehen kann. Ganztagsplätze gibt es in der ganzen Gegend nicht.“ Um Geld zu verdienen, arbeitet sie am Wochenende in einer Kneipe. Dann bleibt ihr Mann bei den Kindern.

An dieser Situation ändert auch der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz wenig. Der gilt ab heute: für Drei- bis Sechsjährige. Die neuen Kindergartenplätze, die dafür aus dem Boden gestampft wurden, gehen zum Teil auf Kosten der Krippen und Hortplätze, also der jüngeren und älteren Kinder. Der Rechtsanspruch auf Kindergartenplätze für Drei- bis Sechsjährige ist überdies von Ländern, Kreisen und Kommunen ausgehöhlt worden: durch Tricks – und durch die sogenannte Stichtagsregelung, die heute in Kraft tritt.

Ab 1. Januar 1996 sollte kein dreijähriges Kind mehr ohne Kitaplatz dastehen. Diese Garantie beschloß der Bundestag vor vier Jahren als Ergänzung zur Neuregelung des Paragraphen 218. Doch Ende 1995 schlugen die Kommunen Alarm: Es fehlten noch über 300.000 Plätze. Um einer drohenden Klagewelle von Eltern zuvorzukommen, erdachte der Bundesrat die Stichtagsregelung: Der Rechtsanspruch gilt nicht vom dritten Geburtstag des Kindes, sondern erst ab dem darauffolgenden 1. August. Dadurch bleibt vorerst fast ein halber Jahrgang draußen – wie Petra Kuhlmanns Sohn Dennis. Der volle Rechtsanspruch tritt erst am 1. Januar 1999 in Kraft, bis dahin gelten Regelungen mit zwei beziehungsweise drei Stichtagen in den kommenden Jahren.

Zum heutigen 1. August haben nur fünf Bundesländer eine hunderprozentige Versorgung vorzuweisen, kritisiert der Deutsche Familienverband: vier der neuen Bundesländer und Rheinland-Pfalz. Schlußlicht ist Schleswig-Holstein mit 61 Prozent Versorgung. In Nordrhein-Westfalen, dem bevölkerungsreichsten Bundesland beispielsweise, fehlen 50.000 Plätze, sagte gestern NRW-Sozialminister Horstmann. Man versuche, sich mit Überbrückungsmaßnahmen wie Spiel- und Vorschulgruppen oder der Nutzung öffentlicher Gebäude für die Kinderbetreuung zu behelfen. In Baden-Württemberg erklärte das Familienministerium, „müßte die Versorgung landesweit ausreichen, es gebe aber lokale Engpässe“.

In den letzten Jahren haben zwar viele Gemeinden Kindergärten gebaut und das Angebot erweitert, um die gesetzliche Verpflichtung einzulösen. Das hat aber nicht gereicht. Deshalb wird getrickst. In Niedersachsen gilt nun auch ein Platz in einer Nachmittagsgruppe als vollwertiger Kitaplatz. In Berlin bekommen Drei- bis Sechsjährige nur noch einen Halbtagsplatz, sobald ein Elternteil erwerbslos ist. Die Berliner Grünen schimpften, der Senat mache selbst aus den Kinderclubs der Kirchen Kitaplätze. Und Karl-Otto Lindner vom Deutschen Landkreistag weiß auch einen Weg, wie ab heute jedes Kind einen Platz bekommen kann: „Dann kommt eben ein Kind mehr in die Gruppe.“

Daß in Westdeutschland bisher Mütter – und engagierte Väter – fürchten mußten, wegen eines Kindes nicht mehr arbeiten gehen zu können, wird sich also vorläufig nicht ändern. Aber wie sieht es im Osten aus, wo Kitas schließen müssen und Erzieherinnen wegen Kindermangels arbeitslos werden?

Beispiel Berlin: Während sich im Westteil der Stadt 64.000 angemeldete Kids um 61.000 Plätze drängeln, gibt es im Ostteil Überkapazitäten. „Wir haben ein demographisches Problem“, weiß Burkhard Kleinert, Familienstadtrat in Prenzlauer Berg. In dem Ostberliner Stadtteil werden heute nur noch halb so viele Kinder geboren wie zu DDR-Zeiten. „Viele Familien wandern ab, vor allem Singles rücken nach“, erklärt der PDS-Abgeordnete, der dieses Jahr schon sieben Kitas im Szene-Bezirk dichtmachen mußte. In den übrigen 89 kommunalen Einrichtungen werden auch nach dem 1. August rund 800 Plätze freibleiben. Doch während der eine Kindergarten um seine Existenz bangt, gibt es im anderen endlose Wartelisten.

Denn seit die Eltern ihre Kinder hinschicken können, wo sie wollen, ist in den Ost-Kitas Konkurrenz angesagt. Montessori oder Waldorf, großer Garten oder dunkler Hof, engagierte ErzieherInnen oder VertreterInnen der alten Schule: wer die Bude vollkriegen will, muß sich profilieren. Und die Eltern müssen sich genauso umgucken wie im Westen, wenn in der Kita um die Ecke zwar ein Platz frei ist, sie ihr Kind aber lieber woanders hinschicken wollen.

Zu kämpfen haben die Ost-Kitas mit den Folgen allgemeiner Einsparungen. Weniger Erzieherinnen sollen mehr Kinder betreuen, bei der Ausstattung wird gespart, und die Öffnungszeiten werden eingeschränkt. Entlassungen treffen überwiegend junge Kräfte, da nach einem „sozialverträglichen Punktesystem“ entschieden wird, in dem vor allem Lebens- und Arbeitsjahre zählen. Um den Abbau zu bremsen, versuchen die Ost-Kitas in Berlin nun auch West-Kinder anzulocken. Doch Birgit Bolle, Leiterin einer Kita in der Dunckerstraße, ist skeptisch: „Viele Eltern scheuen die Fahrzeit“, meint sie, „außerdem wissen die im Westen sehr wenig von uns.“

Constanze v. Bullion,

Bettina Markmeyer,

Karin Gabbert