Leere Eier Von Thomas Gsella

Nicht viel ist wirklich lustig. Aber lustig finde ich, daß ich seit neuestem die Vokabel „achtsam“ kenne. Wohl über 36 Jahre vernahm und nutzte ich sie nie. Erst in letzter Zeit, da allerorten diese Neusinnsuche eingesetzt hat und ein geschätzter Mitmensch nach dem anderen das Fähnlein seiner Seele nach Asien ausrichtet, um es im Winde Buddhas flattern zu lassen, bereichert diese Münze meinen Wortschatz.

Denn „Achtsamkeit“ heißt mir der dritte der sechs Wege zum zwölfstufigen Pfade des Wasweißich! Achtsam springe nun auch ich mit den Geschöpfen um, ob Mensch, ob Tier, ob Blume. Im nachhinein traurig ließ mich vor einiger Zeit mein alter Unifreund Klaus Kuchenbuch zurück, der auf meine Frage, was er beruflich tue, antwortete:

„Och, so Mathe mit Mördern.“

„Aha“, sagte ich, „aber ist deine Rede denn nicht dunkel wie die Nächte Afrikas?“

„Ich unterrichte im Gefängnis. In der Schule habe ich halt nix gekriegt. Deutsch für Diebe, Englisch für Einbrecher...“

„Geologie für Geldwäscher...“

„Religion für Räuber...“

„Aufmerksamkeit für Attentäter...“

„Und Sport für – Sparkassenobligationenbetrüger!“

So witzelten wir. Heute aber denke ich: Gehe achtsam mit Schubladen um. Jeder Mensch ist ein Geschöpf seiner Umstände und seiner Zeit, und wenn einer mordet, dann, weil's in seinem Zirkel modern ist. Begraben wir unseren Spaß an dem Ausspruch „Mathe mit Mördern!“ Trennen wir uns endlich von Herabsetzung, Desavouierung und Diffamierung in jeglicher Gestalt! Und geben wir, soweit unser Reichtum es erlaubt, allen indischen Zettelfrauen eine Mark!

Letztens saß ich im Café und gab einer indischen Zettelfrau keine Mark, und schon fühlte sich ein Nebenmann in seiner grenzenlosen Stockdummheit bestätigt und belästigte die Frau, indem er sagte: „Könnse nich arbeiten, oder was?“ Solche Fragen stellen kleine Leute mit kleinen Gehirnen und furchtbarer Arbeit, die sie gern aufgeben würden, und am Wahlsonntag wählen sie dann die Faschisten.

Eine Bekannte erzählte mir dieses: Sie habe umgeschult und arbeite in einem Modellversuch in Sachen Altenpsychiatrie. Jeweils nicht mehr als 15 Insassen eines annehmbaren Wohnblocks hätten abschließbare Wohnungen sowie einen Gemeinschaftsraum. Einer der Männer, vormals Architekt, stehe täglich bis zu sieben Stunden dort vor einer Wand und vermesse sie mit einem Maßband. Abends sitze er vor einem Fernseher, warte auf das Bild einer Frau und onaniere. Das tue er ein dutzendmal und öfter, so oft, bis Blut komme. Ich fragte: „Iiiih, warum denn Blut?“ Sie sagte: „Das wußte ich bisher auch nicht. Aber der Arzt sagte, Blut kommt, wenn die Eier leer sind.“

Ein Sachverhalt, der nur sehr wenig Trost bereithält. Helfen möge die Vision, daß auch der Zettelfraubelästiger einst Zoll ans Alter zahle. Ich sehe ihn in einem Altenpsychiatrie-Modellversuch, wie er an der Wand steht, auf die er eine Zettelfrau gemalt hat. Ohne Pause schimpft er: „Könnse nich arbeiten, oder was?“ Dabei onaniert er. Eines Tages aber sind die Eier leer, und der dumme kleine Mann kippt um.