Eine Runde nach der anderen

Während Pascal Richard als erster Profi ein Olympia-Straßenrennen gewinnt, träumen Iren im Pub von Michelle Smith und Ex-Radstar Kelly  ■ Von Matti Lieske

Irische Olympiatouristen sind vergleichsweise selten im Centennial Olympic Park zu finden. Auch als der geschlossen war, wußten sie jederzeit, wo sie hingehen konnten. Ihr Sammelplatz ist der geräumige irische Pub „Fadó Fadó“ in Buckhead, dessen Fassade gleich einen ganzen irischen Straßenzug mit Zeitungskiosk, Bar, Post und sogar einem aufgemalten Pier in sich vereint. Hier konnten diejenigen, die keine Karten bekommen hatten, die Siege von Michelle Smith im Schwimmen und die Niederlage von Sonia O'Sullivan im 5.000m-Lauf auf einer großen Leinwand verfolgen. Die Familie Smith hatte sogar ihr Hauptquartier im „Fadó Fadó“ aufgeschlagen.

„Lizenz für den Ausschank von Wein, Bier und Schnaps an sieben Tagen der Woche“ steht über der Tür. Das sind beste Voraussetzungen, die Goldmedaillen des Töchterleins zu feiern und sich darüber hinwegzutrösten, daß ausgerechnet Irland in den USA zum Nachfolger von China, Kuba und der Sowjetunion als Oberbösewicht im Kalten Sportkrieg erklärt wurde. Schlecht haben es die Amerikaner verkraftet, daß ihnen die über Nacht in ein Schwimmwunder verwandelte Michelle Smith die schönsten Goldmedaillen wegschnappte.

Am Mittwoch waren die Iren eher spärlich vertreten, obwohl die Strecke des Straßenrennens der Männer direkt an der Kneipe vorbeiführte. Doch hatte die Insel nur einen Teilnehmer ins Rennen geschickt, und dem wurden auch von wohlwollendsten Landsleuten nicht gerade die besten Siegchancen eingeräumt.

Sobald die aufgeregten Pfiffe der Streckenposten ankündigten, daß die Fahrer eine weitere Runde absolviert hatten, hastete alles aus dem lauschigen Dunkel des Kneipeninneren auf die Straße, stellte fest, daß David McCann erneut nicht in der Spitzengruppe war und ging wieder rein. „Das waren noch Zeiten, als wir Sean Kelly und Stephen Roche hatten“, brummelte Mick mißmutig, bevor er zu einem neuen Guinness zurückschlurfte. Insgesamt waren 17 Runden zu fahren.

Die Dänen auf der anderen Straßenseite hatten es da schon besser. „Bjarne, take the gold“, stand auf ihrem Transparent. Schiefgehen konnte nach dem Sieg von Bjarne Riis bei der Tour de France sowieso nichts mehr. Spanier waren überhaupt nicht zu sehen. Vermutlich können sie nach Miguel Induráins Sturz vom Tour- Thron den Radsport nicht mehr ertragen. Dafür wehten ein Stück weiter, vor der berühmten Cheesecake Factory – die gar keine Fabrik, sondern ein Restaurant ist – großformatige deutsche Fahnen im nicht vorhandenen Wind. Drei Runden vor Schluß sackten sie auf Halbmast, denn da war klar, daß weder Erik Zabel noch Olaf Ludwig bei der Medaillenvergabe eine Rolle spielen würden.

Blieben die einheimischen Fans, die natürlich auf Lance Armstrong setzten. Der Ex-Weltmeister war wegen einer Erkältung bei der Tour ausgestiegen, hatte sich aber wieder erholt und erklärt: „Ich bin in der besten Form meines Lebens.“ Vor eigenem Publikum die Goldmedaille zu holen, betrachtete er als reizvolle Perspektive, wußte aber die Bedeutung von Olympia für die erstmals zugelassenen Radprofis präzise einzuordnen: „Das ist nicht wie Turnen und Schießen.“ Nächste Woche ist wieder ein Weltcuprennen in San Sebastian, danach eins in Leeds und dann die Spanien-Rundfahrt. „Da ist es, wo wir Brot und Butter verdienen.“ Andererseits: „Für den Radsport ist die Tour das Wichtigste, für Amerika Olympia. Und die Tour kann ich nicht gewinnen.“

Das versuchte er am Ende der 14. von 17 Runden, als er einen Ausreißversuch aus der Spitzengruppe heraus unternahm. Zu früh, wie sich herausstellte. Armstrong wurde eingefangen, der entscheidende Ausbruch erfolgte kurze Zeit später, als sich eine Dreiergruppe mit dem Briten Maximilian Sciandri, dem Schweizer Pascal Richard und, zur Freude des Dänenhäufleins, Rolf Sörensen absetzte.

„Man braucht ein bißchen Glück, um den richtigen Fluchtversuch zu erwischen“, sagte Sörensen hinterher, „aber ich wußte, dieser ist es.“ Das Hauptfeld, in dem Leute wie Induráin, Riis, Zülle oder Olano das Rennen sowieso nur als Aufgalopp für das Zeitfahren am Samstag begriffen, mühte sich nicht sonderlich, die Flüchtigen einzuholen. Auch die vorderste Verfolgergruppe war sich nicht einig.

Beim Kampf um die Medaillen erlebten dann die Dänen doch noch eine Enttäuschung. Sörensen zog den Spurt sehr geschickt an einem Engpaß an, so daß ihm die anderen nicht gleich folgen konnten, doch auf den letzten Metern wurde er vom sprintstarken Richard noch abgefangen. „Ich dachte, es reicht, aber es war genau Richards Terrain“, ärgerte sich der Däne.

David McCann wurde übrigens 72. – vor Leuten wie Riis, Zülle, Cipollini oder Berzin. „Gut gemacht“, brummelte Mick und nahm zur Bekräftigung einen tiefen Schluck. Dann begann er von Sean Kelly zu träumen.