Bill Clinton strebt neuen Armutsrekord an

■ Der US-Präsident unterzeichnet Sozialhilfegesetz. Kritik der US-Bürgermeister

Washington (taz) – Einen „großen Tag für das amerikanische Volk“ verkündete Newt Gingrich. Der Sprecher des US-Repräsentantenhauses meinte nicht die Medaillenrekorde des US-Teams in Atlanta, sondern die Abschaffung des 60 Jahre alten Bundessozialhilfewesens in den USA, der Bill Clinton am Mittwoch seine Zustimmung gegeben hatte. Was Gingrich und die Republikaner als „Befreiung der Armen aus der Abhängigkeit des Staates“ preisen, wird jedoch nach Einschätzung von sozialpolitischen Experten zu neuen Armutsrekorden in den USA führen. Das neue Sozialhilfegesetz schafft den Anspruch von Bedürftigen auf staatliche Hilfe ab und sieht massive Kürzungen bei den Leistungen für alleinerziehende Mütter und ImmigrantInnen vor.

Bill Clinton hatte sich nach mehrstündigen Beratungen mit Beratern und Kabinettsmitgliedern entschieden, die von den Republikanern eingebrachte „Reform“ zu unterzeichnen. Er habe weiterhin schwere Bedenken gegen Teile des Gesetzes, erklärte Clinton. „Doch dies ist für eine lange Zeit die beste Chance, Leute von der Sozialhilfe weg und auf den Arbeitsmarkt zu führen, ihnen mehr Verantwortung abzuverlangen und ihren Kindern zu helfen.“ Ausschlaggebend war offensichtlich die Befürchtung, Clintons Gegenkandidat Bob Dole könne angesichts der gewachsenen öffentlichen Stimmung gegen staatliche Fürsorge für Arme aus dem Reizthema „Sozialhilfe“ eine ähnlich effektive Wahlkampfwaffe machen wie George Bush 1988 gegen Mike Dukakis mit dem Schlagwort „Kriminalität“.

Clintons, wenn auch widerwilliger, Schulterschluß mit Newt Gingrich und den Republikanern wurde von den katholischen Bischöfen in den USA, einigen demokratischen Abgeordneten sowie mehreren Bürgermeistern und Wohlfahrtsorganisationen scharf kritisiert. Ein Sprecher der US-amerikanischen Bischofskonferenz nannte das Gesetz „zutiefst falsch“, weil es sich gegen „hungrige Kinder und Immigranten“, richte.

Viele US-Bürgermeister sehen in dem Gesetz keine Reform, sondern eine Verlagerung der Kosten staatlicher Fürsorge auf städtische Gemeinden. Aufgrund der massiven Kürzungen von Sozialleistungen für ImmigrantInnen rechnet die Stadt Los Angeles mit jährlichen Zusatzkosten von 400 Millionen Dollar. In New York, wo rund eine Million Menschen staatliche Fürsorge in Anspruch nehmen, warnte der republikanische Bürgermeister Rudolph Giuliani vor gigantischen Kosten für die Stadt.

Auch in Europa findet das Beispiel USA Nachahmer. In Deutschland müssen Sozialämter die Stütze um ein Viertel kürzen, wenn ein Sozialhilfeempfänger ihm angebotene „zumutbare“ Arbeit ablehnt.

Andrea Böhm Tagesthema Seite 3