Der Mensch ist das Problem

■ Die Ratte wirft moderne Menschen in mittelalterliche Gefühlslagen zurück/ Zuspruch bekommt der Nager dagegen aus dem Bremer Gesundheitsamt

Darf man Ratten lieben? Durchschnittliche ZeitgenossInnen reagieren auf diese Frage mit einem Schritt zurück, einem mißtrauischen Blick und einem schrillen „Iiiih“. Die Ekelempörung kann allerdings durch zwei simple Worte noch auf den Gipfel getrieben werden. Die Frage warum nicht? wird nämlich als beinah so eklig empfunden wie der Nager selbst.

Hartnäckiges Weiterfragen führt allerdings selbst Menschen mit durchschnittlicher naturwissenschaftlicher Begabung in Niederungen ungeahnter mittelalterlicher Gefühlslagen. Da entpuppt sich der lebenslustige Lockenkopf im Gespräch über die Ratte plötzlich als Mörder der brutalsten Art: „Mit der Latte habe ich sie erschlagen. Seitdem kann ich sie lieben – die Ratte“, berichtet der Kollege über den Befreiungsschlag gegen die eigene Phobie. Selbst der ansonsten sensible Fotograf spricht ohne nennenswerte Gefühlsregung über die tierquälerischen Rattenmorde des Vaters. Der Ex-Seemann hatte Ratten in kochendem Wasser zu Tode gebrüht – „um die anderen durch die Todesschreie abzuschrecken“, heißt es nüchtern. Alternativ wird lebendiges Verbrennen gehandelt.

Sobald es um die Ratte geht, regiert besinnungslose Furcht. Das Vertrauen in Technik, Hygiene oder moderne Kampfmittel ist noch zu erschüttern – doch nicht ganz ohne Grund, sagt Michael Römer. Der Vorsitzende des bremisch-niedersächsischen Schädlingsbekämpfungsverbandes hatte in der Grafschaft Bad Bentheim beruflich sogar schon mit Viechern zu tun, die gegen bestimmte Gifte immun sind. Aber wie alle Jäger hat er die Gewohnheiten seines Gegners genau studiert – und schätzt ihn: „Bewundernswert, wie Ratten mit ihren Rudeln in Gegenden überleben, die für Menschen unbewohnbar sind.“ Überhaupt sind Ratten nicht nur „die saubersten Tiere, die es gibt“. Sie sind dem Menschen nicht nur in vielem ähnlich – sondern in manchem sogar überlegen, sagt Römer: Ratten lieben Geselligkeit, fressen alles, vermehren sich ganzjährig, helfen sich gegenseitig – und außerdem werden sie gegen Krankheiten, die sie übertragen, auch noch selbst immun.

Doch halt, an dieser Stelle verschwimmen die Grenzen zum Aberglauben. Selbst Experten sind sich uneins. Während Norbert Humborg, als Leiter des Städtischen Museums in Hameln Experte für Rattenfragen, die Tierchen auch atomare Höllen überleben sieht, will Michael Römer so weit nicht gehen. Sowieso würde viel übertrieben. Daß die Ratte, die tot auf dem Rücken liegt, beispielsweise die Pest bringt, sei reine Mär – allerdings immer wieder aufgekocht in Märchen und Literatur. Großartig in Camus' „Pest“ beispielsweise – aber dennoch völlig uneuropäisch. Ratten und Pest sind dem Schädlingsbekämpfer nur als indische Epidemie vor einigen Jahren in Erinnerung. Und ein „Rattenkönig“, ein „vielköpfiges Rattenmonster“, das am Schwanz zusammengewachsen ist, hat er noch nie gesehen – während die Mißbildung in Hameln bereits in Spiritus ausgestellt wurde.

„Ratten sind vor allem ein ästhetisches und ein psychologisches Problem“, sagt Ute Zolondek. Sie ist Abteilungsleiterin beim Bremer Gesundheitsamt – und hätte nichts dagegen, wenn wer Ratten liebt. „Denn Ratten und Menschen gehören zusammen. Die Ratte ist ein Zivilisationsfolger.“ Aus ihrer Sicht ist das Problem Ratte eher ein Problem Mensch: „Die europäische Angst vor dem Nager steht in keinem Verhältnis zur Gefahr, selbst wenn immer neuartige Infektionskrankheiten auftreten.“ Ob Rattus norvegicus, Rattus rattus oder Mus musculos, sie alle wollen einfach nur fressen – am liebsten Essensreste, die Menschen verbotenerweise durchs Klo spülen. Aber auch Entenfutter im Park oder Backabfälle von Gewerbebetrieben. „Und wer prüft schon regelmäßig den Kanal, ob durch ein Loch die Ratten in den Garten oder ins Haus gelangen?“ fragt Zolondek. Für Hygiene sei der Mensch verantwortlich. ede