Kommentar
: Argentinischer Blues

■ Polizeitaktik schlägt Grundgesetz

Wir kennen die Bilder: An jeder zweiten Ecke stehen ein, zwei Uniformierte. Menschen werden weggefangen, keiner weiß, warum. Wir kennen vielleicht selbst das Gefühl, wie es ist, in so einem Land. Dieses Ausgeliefertsein, das Gefühl der Wehrlosigkeit gegenüber der Staatsmacht. Argentinischer Blues. Beispielsweise.

Darf man solche Assoziationen haben, wenn man über den Bahnhofsvorplatz schlendert? Um dem gröbsten Mißverständnis vorzubeugen: Dieses Land ist beileibe keine Diktatur. Wir leben in einer Demokratie. Schon richtig. Trotzdem ist der argentinische Blues im Ohr. Die so wertvollen Unangepaßten einer ganzen Generation bekommen gerade ihre Lektion: So wie ihr seid, seid ihr unerwünscht, ihr könnt kontrolliert und schikaniert werden, wie es einem schlechtgelaunten Polizeiobermeister gerade gefällt. Schert keinen. Polizeitaktik schlägt Grundgesetz. Und das, Herr Innensenator, geht bei allem Verständnis für die Abwehr von Straftaten zu weit.

Dieses Land ist eine Demokratie. Doch daß das so bleibt, ist keine Selbstverständlichkeit. Eine Demokratie muß verteidigt werden, sonst ist sie bald keine mehr. Warum aber sollen diese Jungen diese Demokratie verteidigen, wenn sie gerade die kollektive Erfahrung eingebleut kriegen, daß sie dieser Demokratie herzlich schnuppe sind? Die stumme Gleichgültigkeit der Alten kann Angst machen.

Jochen Grabler