Der operative Schlafplatz

Die Mobilisierung der Bewohner stellt das Wohnen in Frage. Wo die Menschen auf den Plätzen der Stadt zu Hause sind, wird Wohnlichkeit zur Dienstleistung. Erster Teil der neuen Architektur-Serie „Wie gewohnt?“  ■ Von Hans Wolfgang Hoffmann

Der Hof meiner Großeltern: Das Hämmern aus der Werkstatt, die wuchtige Standuhr, der Keller voller Geheimnisse und die lange Tafel am Erntedankfest. All das begleitete meine Kindheit. Hier war meine Heimat, auch als ich längst ausgezogen war. Bei jedem Besuch schien mir die Zeit stehengeblieben zu sein. Was drumherum geschah war egal, man würde diesen Ort ohnehin nie verlassen: das Haus war der Mittelpunkt der Welt.

Auf dem Weg ins Reich meiner Kindheit besetzt eine Gruppe junger Menschen mit turmhohen Rucksäcken das Abteil des Regionalzugs. Einer hält die Klampfe, die übrigen singen und lassen eine Flasche Rosé rumgehen. Die Mitfahrer bekommen glänzende Augen. Ein wohliges Gefühl überstrahlt die abgewetzten Polster: Zu Hause ist, wo wir sind.

Die Momentaufnahme wird zum Präzedenzfall. Heute ist das Haus nicht mehr das Zentrum der Welt. Seine Bewohner haben sich verflüchtigt. Die Familie, die sie einst an das Haus band, es errichtete und mit Leben füllte, zerfällt. Ihre Randgruppen, Kinder und Alte, werden ausgelagert. Die Heranwachsenden verlassen das Zuhause, sobald sie glauben, mit dem Leben halbwegs allein fertig zu werden. Andere Formen der Partnerschaft übernehmen die soziale Funktion der Familie. Sie sind auf Zeit angelegt und bedeuten keineswegs, daß man auch zusammen wohnt. Nur jedes achte Paar lebt heute in einem gemeinsamen Haushalt. In den Großstädten sind Einpersonenhaushalte die Regel.

Die Bereitschaft des Allein- Menschen, sein Leben an einen Ort zu binden, schwindet. Berufliches Fortkommen verlangt Mobilität. Boston, Bern, Berlin sind weniger reale Orte als Karrierestationen. In seiner Freizeit suchen die Menschen eine Gegenwelt, fordern Erlebnisse, die die Wohnung, der Hort des Alltags, nicht bieten kann. „Urlaub machen“ wird gleichbedeutend mit „Wegfahren“.

Die restliche Zeit verteilt sich auf ein Netz von Schauplätzen: Parkbänke, Fitneßstudios und Multiplex-Kinos, alle so gestaltet als seien sie bewohnbar. Das „Zuhause in der Stadt“ erstreckt sich auf die ganze Stadt. Die neueste Kneipe ist schon vertraut, während sich Staub auf dem heimischen Fensterbrett anhäuft. Freunde werden nicht mehr nach Hause eingeladen, man sieht sich im Café. Hier werden zwar Speis' und Trank abgerechnet, bezahlt wird aber das Ambiente, jene heimelige Atmosphäre, die es zu Hause nicht mehr gibt. Wohnlichkeit wird ein kurzweiliges Erlebnis, eine konsumierbare Dienstleistung.

Zugleich verliert die Wohnung ihre Primärfunktionen. Das Kochen wird von Dienstleistern übernommen: Menübringdienste, Schnellimbisse und Fertiggerichte bestimmen den Speiseplan. Auch Intimität erfordert keine Abgrenzung mehr: Mitten auf der Straße lassen sich die privatesten Geheimnisse ins Handy sprechen. Und niemand fragt beim Anblick küssender Menschen noch: „Haben die kein Zuhause?“

Wozu also überhaupt noch wohnen? Ist mit der Mobilisierung des Bewohners das Ende der Seßhaftigkeit gekommen? Wohl kaum. Obdachlosigkeit wird durch Sozialromantik noch nicht zur Avantgarde des Wohnens. Rucksacktourismus und Wagenburgen sind als futuristische Wohnform offensichtlich nicht mehrheitsfähig.

Auch das mobile Individuum kann auf Dauerhaftigkeit nicht verzichten. Im Gegenteil: Wo sich rundherum ständig alles ändert, ist die Wohnung das Gedächtnis. Ihre Gegenstände sind Spuren dessen, was die Bewohner bisher getan haben. Daß sie überhaupt noch in Gebrauch sind, bewahrt vor bloßer Nostalgie. Die Wohnung gibt Zeugnis vom Leben derjenigen, die in ihr wohnen, selbst wenn sie gar nicht da sind.

Wo alles geregelt ist, wo sich die Freiheit des Konsumenten in einer Auswahl des Vorgegebenen erschöpft, ist die Wohnung zugleich der letzte Raum, frei über vieles zu bestimmen: Wie die Umgebung aussieht, ob und mit wem man dort die Zeit verbringt und was man mit ihr anfängt, kurz: Wie man leben will. Hier ist der Ort, von dem aus sich der einzelne in der Welt einrichtet. Erst die sichere Operationsbasis gibt die Freiheit nach außen zu handeln.

Doch davon ist der gängige Wohnungsbau weit entfernt. Hier regiert das Ideal der Wohnmaschine. Seit einem Dreivierteljahrhundert zieht sich dieses Leitbild durch alle Förderrichtlinien des sozialen Wohnungsbaus. Obwohl der Staat mangels Finanzkraft dabei als Akteur ausfällt: Dieses Leitbild besitzt längst die normative Kraft des Faktischen.

Für die Wohnmaschine sind die eigenen vier Wände das, was sie auch schon im Grundgesetz sind: „unverletzlich“. Freiheit erschöpft sich in der Abdichtung der Gefahren von außen. Das Haus ist ein Stapel isolierter Wohnzellen. Die Mobilisierung der Bewohner wird ignoriert. Die Stadt wird ausgeblendet. Wo etwa bei der Mietskaserne Haus und Straße über Läden und ebenerdige Eingänge fließend ineinander übergehen, schafft die Wohnmaschine mit pflegeleichten Dornenbüschen und einem vom Erdboden entrückten Hochparterre Distanz. Ebenso gleichgültig verhält sich diese zur Hausgemeinschaft: Wer in der Enge der minimierten Treppenhäuser oder im Aufzug zufällig seinen Nachbarn trifft, muß wohl oder übel ausweichen, ist froh, die Wohnungstür erreicht zu haben. Erst dahinter beginnen die eigenen vier Wände, zu nichts anderem bestimmt als Wohnen. Jede Funktion hat ihr spezifisches Zimmer. Für das Kind sind zwölf, zum Kochen acht und zum Lagern des Überflüssigen ein Quadratmeter reserviert. Obwohl sich die Fläche auf 35 Quadratmeter pro Bewohner addiert, will sich Großzügigkeit nicht einstellen. Wände zerschneiden den Raum, bestimmen, wo das Bett zu stehen hat und daß ein Schreibtisch nicht mehr hineinpaßt. Noch bevor das erste Möbel aufgestellt ist, hat der Grundriß bereits entschieden, wie man zu leben hat. So wird der Bewohner zum Dienstboten. Was wie ein Maßanzug aussieht, entpuppt sich als Zwangsjacke. Bleibt nur, dem nackten, von Anfang an fertigen Grundriß ein „Ambiente“ zu geben. Dankbar bedienen sich die Bewohner der Lifestyle-Bilder von Ikea oder der Gemütlichkeit aus Möbelcentern und verstellen sich den letzten freien Platz. Das Gefühl, „zu Hause zu sein“, entsteht aus Anpassung und Gewohnheit.

Muß das so sein? Nicht nur die hohen Baukosten zwingen, das Wohnen von dem Ballast fester Standards zu befreien. Warum sollte etwa die „Flexibilität“ versetzbarer Trennwände ein Privileg des Bürohauses bleiben? Warum gehört moderne Kommunikationstechnik nicht längst zur Serienausstattung? Durch sie könnte die gute Stube Anschluß an die moderne Welt finden. Aus dem reinen Wohngefängnis würde wieder der Ort selbstbestimmter Arbeit. Die Einheit des Lebens, welche die Industrielle Revolution einst auseinanderriß, wäre wieder hergestellt.

Für mehr Freiheit braucht der mobilisierte Bewohner nicht mehr, wahrscheinlich sogar weniger Raum: Bett, Handy und Laptop – fertig ist der Rastplatz an der Datenautobahn. Tisch, Naßzelle, Küchenzeile, Lager, alles weitere bleibt dem Bewohner überlassen. Warum soll er sein Leben und den Ort, an dem er es verbringt, nicht selbst organisieren? Wer, wenn nicht der mobile Bewohner, ließe sich dafür mobilisieren? Wer sich frei einrichten kann, bei dem wächst das Gefühl, zu Hause zu sein von ganz allein. Der bleibt aus freien Stücken.

Gerhard Ullmann: „Die Wohnung, das Haus, die Stadt und die Welt“; Wolfgang Pehnt: „Ernst und Spiel des Wohnens“. Beide in: db 12/95, 20 DM

Dieter Hoffmann-Axthelm: „Wohnen als fixe Idee“.In: „Urbane Behausungen“. Daidalos Heft 60, 1996, 50 DM

Teil II erscheint am 1. September: Hans Kollhoff und das Material des Wohnens