Petersburg Blues

Sie spielen das gleiche Lied: der Straßenmusikant in Leningrad vor acht Jahren und der auf dem Schiffbauerdamm heute. Jener war Afghanistan-Veteran und Dichter, dieser ist Student aus Rußland. Ein Berliner Wiedersehen?  ■ Von Marc-Thomas Bock

Je mehr ich mich der überdachten Fußgängerzone nähere, desto seltsamer wird mir zumute. Die Gesangsfetzen, die durch den Baulärm am Bahnhof Friedrichstraße zu mir dringen, irritieren mein Passantenbewußtsein. Den Himmel über der Stadtmitte kleidet ein deprimierendes Grau. Regentropfen fallen und schlagen Blasen auf der trägen Oberfläche der Spree.

Obwohl das Lied jetzt deutlicher zu vernehmen sein müßte, gehen seine Strophen im Gedonner eines Stadtbahnzuges unter. Die Vorbeieilenden spannen noch im Gehen ihre Schirme auf und verschwinden jenseits der Brücke in Richtung Albrechtstraße. Jetzt klingt die Stimme des Sängers sehr nahe. Sie wird durch die Bogenkonstruktion der Brücke reflektiert und hakt sich in meinem Denken fest.

So gut ist mein aus ferner Schulzeit stammendes Russisch nicht, daß ich verstünde, wovon die Stimme dort vorn ein Lied zu singen hat. In einem jedoch bin ich mir sicher: Ich habe dieses Lied und die Stimme, die es singt, schon einmal gehört. Als ich den höchsten Punkt der Brückenunterführung erreicht habe, sehe ich den Sänger an deren Ausgang sitzen. Und augenblicklich wird mir bewußt, daß es Zufälle gibt, die einem den Glauben an Zufälle nehmen können.

Er ist es tatsächlich. Anders als damals sind seine Haare nun schulterlang und fallen ins Gesicht. Auch trägt er jetzt einen exakt gestutzten Bart, der sein Kinn markanter wirken läßt. Der da vor mir sitzt, gleicht irgendwie einem russischen Vertreter der Generation X. Aber immerhin: Ich habe ihn wiedererkannt. Etwas hat sich außerdem an ihm geändert, nur will mir dies im Moment nicht einfallen. Um ihn leichter beobachten zu können, halte ich mich am Drehständer eines Zeitungskiosks auf, etwa so wie ein Detektiv in einem Serienkrimi. Die Getragenheit des Liedrefrains setzt mein Erinnerungsvermögen in Gang. Und während Fußgänger ab und zu eine Münze in des Sängers Gitarrenkasten fallen lassen, kommt mir alles wieder in den Sinn.

Das durch ihre Nordlage besonders schöne Dämmerlicht einer Stadt, die sich damals noch Leningrad nennt. Die Massen vornehmlich junger Leute auf dem abendlichen Newski-Prospekt. Die vielen Menschen in den Seitenstraßen, ihrer Grundstimmung nach euphorisch im zweiten Jahr der Umgestaltung, die Perestroika singend, deklamierend, debattierend.

Schlagartig erinnere ich mich wieder an die spontanen Versammlungen in den Parks und an den Ufern gegenüber der Peter- und-Paul-Festung. An die Unruhe, die Agitation und an den Bewegungsdrang einer großen Stadt, die den politischen Umbruch ahnt. Die Phrase von der „revolutionären Umwälzung“ fällt mir wieder ein, erdacht von den realsozialistischen Politbüros, um die reformwilligen Kadergenerationen zu beschwichtigen.

An diesem Abend vor acht Jahren befand ich mich als Besucher hier, als Student und als Tourist, der mit dem Zug aus Riga nach Leningrad gekommen war. Ich sehe die Klarheit der Gebäudesilhouetten dieser Stadt vor mir. Die klassizistischen Häuser an den Grachten der Newa. Ich beobachte die heftigen Gesten der Teetrinker in einem Café an der Plechanowa. Hier, an einem Abend vor acht Jahren, ist das Revolutionäre für einen historischen Moment kein falsches Pathos mehr. Die greisen Riegen der Zentralkomitees scheinen zu wanken, hier und anderswo.

Ich erinnere mich auch an die Bäume, deren Rinde verschwindet unter den an sie gepinnten Gedichtzetteln, Losungen und Karikaturen, Majakowskis „Rostafenstern“ ähnlich. Ein Zwanzigjähriger rezitiert Texte, in denen immerfort die Rede ist von GPU und KGB. Und schließlich sehe ich ihn vor mir, den Sänger trauriger Balladen. Er sitzt auf den Stufen des Museums für die Geschichte des Atheismus und der Religion an der Kasanskaja. Mit todernster Miene traktiert er seine Gitarre mit Barrégriffen. Eine Milizstreife im blauen Polizeiwagen rollt langsam vorbei. Ich höre ihm zu, nicht ahnend, daß ich ihm einmal wiederbegegnen werde.

Der Regen hat etwas nachgelassen. Plötzlich fällt mir ein, was an dem Musiker ich übersehen habe. Es ist der Stumpf. Damals, in Leningrad, ruhte die Gitarre auf dem Stumpf seines rechten Oberschenkels. Die schreckliche Abwesenheit des restlichen Beins wurde durch ein kleines Pappschild erklärt. „Afganez i poet“, stand darauf geschrieben, „ich bin Afghanistan-Veteran und Dichter“. Von einem Beinstumpf ist allerdings jetzt und hier, am Schiffbauerdamm, nichts zu sehen. Könnte ich mich derart geirrt haben? Als er sich erhebt, um eine Zigarette aus der Hosentasche zu angeln, vollführt er eine halbe Drehung. Und richtig – das leichte Krümmen seines Oberkörpers nach rechts läßt auf eine Beinprothese schließen.

Vorsichtig stellt er die Gitarre ab, klemmt sich eine Zigarette zwischen die Zähne und beginnt damit, das Geld im Instrumentenkasten zu zählen. In diesem Augenblick beschließe ich, ihn anzusprechen. Gebückt erwidert er mein „dobri djen“ mit dem Gleichmut desjenigen, der nichts anders erwartet hat. „Ich kenne dich“, sage ich in meinem holprigen Russisch. „Ich habe dich 88 in Leningrad gesehen. „Ja“, antwortet er langsam auf deutsch. „Ich war da, in Petersburg.“ Er mustert mich ohne Interesse.

Ich schildere ihm genau, wo ich ihn singen gehört habe. Ich erkundige mich auch nach dem Lied. „Ist das Lied vom Soldaten. Bulat Okudshawa. Kennt in Rußland jedes Kind.“ Als ich mir auch eine Zigarette anzünde, wird er gesprächiger. Ich frage ihn nach seinem Repertoire.

Sein Deutsch ist makellos. Er studiert in Berlin. „Meistens spiele ich ein paar wirklich langweilige Volkslieder. Manchmal auch Wosnjessenski. Oder eben auch Okudschawa und Arkanow. Die Deutschen sind Ästheten. Hauptsache ist, die Musik klingt russisch. Und russisch heißt traurig. Je trauriger, desto besser, ponimajesch? Die Deutschen sind... russophil. Viele jedenfalls.“

Als ich daraufhin wissen möchte, wie oft und wie lange er gewöhnlich spielt, lacht er kurz auf, Geringschätzigkeit ausdrückend. „Sechs Stunden in der Woche, höchstens. Sind so vierzig, fünfzig Mark. An guten Tagen. Ich spiele immer an die fünf Titel hintereinander. Wenn es mir schlechtgeht, kann es vorkommen, daß ich anfange zu spinnen.“ „Spinnen?“ frage ich erstaunt. „Na ja“, meint er und grinst. „Improvisieren hört sich vielleicht besser an. Ich singe dann irgendeinen Quatsch. Habe ich neulich auch gemacht. Im U-Bahnhof Spichernstraße. Ich singe da was von zwei Dieben, die die Straßenbahn verpaßt haben. In Wirklichkeit geht es in dem Lied um die Schönheit Sibiriens. Plötzlich kommt da einer. War ein Landsmann von mir. Bleibt stehen und fragt mich, warum ich das schöne sibirische Lied so furchtbar verarsche. Er sei aus Irkutsk, Sibirien. Müdigkeit, antworte ich ihm. Steh du mal hier stundenlang rum und spiel für wenig Geld! Trotzdem, sagt der. Russische Kultur ist einem richtigen Russen heilig. Und dann geht der Kerl weiter, ohne mir auch nur eine Mark gegeben zu haben. Schöner russischer Heiliger! Das ist der Petersburg Blues, rufe ich ihm hinterher. Etwas anderes fiel mir gerade nicht ein.“

Wir ziehen an unseren Zigaretten. Über die benachbarte Weidendammer Brücke fließt der Verkehr der Friedrichstraße. „Warum suchst du dir nicht einen besseren Standplatz?“ Meine Frage amüsiert ihn. „Besser? Du meinst KaDeWe und so?“, antwortet er mit einer Gegenfrage. „Na ja“, versuche ich zu präzisieren, „von fünfzig Mark läßt sich doch nicht leben, oder?“ Er schiebt mit dem künstlichen Fuß am Gitarrenkasten herum und überlegt.

„Kommt drauf an. Hat man viele Bedürfnisse, braucht man viel Geld. Ich habe wenig Bedürfnisse. Ich brauche keinen Gebrauchtwagen, keinen Fernseher und keine Wohnung vom Sozialamt wie eure Rußlanddeutschen hier. Würde ich auch gar nicht bekommen. Ich bin ein originaler Russe.“ Er wirft seine Kippe durch das Brückengeländer hinab in die Spree. Wir schweigen ein paar Sekunden, bevor er weiterspricht. „Ich will noch ein bißchen von Europa sehen. In Städten spielen. Ich habe schon in Warschau gespielt, am Hotel Bristol. Ich war auch schon in Helsinki. In Berlin bleibe ich noch für zwei Semester, dann gehe ich nach Paris. Man kann in Nanterre Slawistik studieren. Das Stipendium kommt von einem exilrussischen Verein.“

„Willst du in Paris bleiben, für immer sozusagen?“ frage ich ihn. Er sieht den Passanten nach, die jenseits der überdachten Brücke im Nieselregen verschwinden. Plötzlich, wieder ins Russische verfallend, sagt er abrupt: „Gib mir noch eine Zigarette. Dann erzähle ich es dir.“

Okay, denke ich. Schließlich will ich etwas von ihm erfahren. Konsequenterweise zünde ich mir eine zweite Zigarette an, nachdem seine bereits brennt. „Du rauchst zuviel“, meint er, und zum ersten Mal sehe ich ein Lachen in seinem Gesicht.

„Also“, hebt er wieder zu sprechen an, „natürlich gehe ich wieder nach Rußland zurück. Und weißt du, was ich vorhabe? Ich gründe eine Organisation. Ich nenne sie die Russisch-Europäische Akademie. Sie wird alle Russen mit Europaerfahrung vereinen. Die Idee ist zwar nicht von mir, sondern von Joseph Brodsky, aber ich werde sie zum Leben erwecken. Diese Akademie wird russisches Kulturgut in europäischen Staaten popularisieren. Und umgekehrt.“

Er hält inne und zieht seinen Daumen über die Gitarrensaiten. Als ich ihn fragen will, ob Rußland seiner Meinung nach nicht zu Europa gehört, kommt er mir zuvor. „Weißt du“, sagt er, ein wenig gönnerhaft, „Rußland und Europa sind wie zwei Klumpen. Man muß sie aneinanderdrücken. Sonst wird nichts aus beiden. Das hat hier bloß noch keiner begriffen.“

Diese letzte Feststellung verhallt echolos in den Geräuschen des Stadtbahnhofes. Irgendwie schafft er es, in jedem seiner Worte Endgültigkeit mitschwingen zu lassen. Eine Fähigkeit, um die ich ihn ein wenig beneide. Ich wende mich zum Gehen. Doch blitzschnell fälle ich eine Entscheidung, die die Neugier über den Anstand siegen läßt. „Was ist eigentlich mit deinem Bein? Geht es jetzt besser als damals?“

Sein Blick, der meine Frage quittiert, zeugt von einem derartigen Unverständnis, daß ich meine Dreistigkeit sofort bereue. „Was soll mit meinem Bein sein?“ fragt er, im Brustton echter Verblüffung. Und mir wird klar, daß dieser russische Sänger dort vor mir schon immer zwei gesunde Beine besessen haben muß.

Als ich meinen Zug in Richtung Ostkreuz besteige, rekapituliere ich den Leningrader Abend vor acht Jahren noch einmal. Schließlich habe ich den Sänger trauriger Balladen wieder vor Augen. Und ich beschließe, sollte es, entgegen aller Wahrscheinlichkeit, noch einmal zu einer Begegnung mit ihm kommen, nicht danach zu fragen, ob er am Tag X im Jahr Y am Schiffbauerdamm in Berlin gesungen hat...