Gorbatschows großer Abrüstungsfehler

Ólafur Grimsson, seit gestern neuer isländischer Ministerpräsident, war am Gipfel von Reykjavik beteiligt. Der Politologe ist Experte für Entspannungsfragen und Trolle. Seine private Passion sind Gespräche mit Seeschwalben  ■ Von Wolfgang Müller

Eine krakelige, weiße Linie zieht sich quer über die Schuhspitzen der noch feuchten, grünen Wildlederschuhe. Gestern hat es den ganzen Tag über geregnet. Die Wasserränder auf den Schuhen sind auch durch heftiges Reiben nicht wegzubekommen. „Mit diesen Schuhen kann ich nicht zum Staatspräsidenten gehen“, sage ich zu Heimir Pétursson.

Er ist Fernsehreporter für stöd2 und hat durch seine Vermittlung das Interview möglich gemacht. Wortlos beugt sich Heimir über ein Holzkästchen, greift nach einer kleinen Blechdose, schabt mit einer Bürste etwas von dem gelben Fett heraus und verteilt es großzügig über die Schuhe. Die weißen Ränder verschwinden, und aus den grünen Wildlederschuhen werden dunkelbraune, glänzende Lederschuhe.

Mit dem Auto fahren wir Richtung Seltjarnarnes. Der mit Reykjavik zusammengewachsene Vorort liegt an der Spitze einer Landzunge. Hier, in einem Reihenhaus, wohnen der Ende Juni 1996 gewählte zukünftige isländische Staatspräsident Ólafur Ragnar Grimsson und Gudrun Katrin Dórbergsdóttir, seine Frau.

„Hab' ich 'ne Fahne?“ fragt Heimir und haucht mich vorsichtig an. „Kaum“, erwidere ich. „Dann muß ich noch schnell was essen.“ Er hält am Autoschnellimbiß zwischen Ananaust und Eidsgrandi und ordert aus dem heruntergekurbelten Fenster Hot Dog und Cola.

Anschließend geht es die am Meer liegende Küstenstraße Eidsgrandi entlang, an der das Wohnhaus von Ólafur Grimsson liegt. Aus dem kurzgeschorenen Rasen vor dem Haus ragen drei dicht beieinanderstehende, etwa ein Meter hohe Basaltblöcke.

Erst beim zweiten Klingeln öffnet sich die Tür, und Ólafur Grimsson, in anthrazitgrauer Jacke, einer gleichfarbigen Hose, weißem Oberhemd und bordeauxroter Krawatte, bittet uns herein. Heimir zieht seine Schuhe aus, ein in Island üblicher Brauch beim Betreten einer Wohnung. Aus meinen dunkelbraun glänzenden Lederschuhen schlüpfend, entdecke ich entsetzt in einer zum Vorschein kommenden Socke ein großes Loch, aus der der mittlere Zeh ragt. Der kommende Präsident scheint es nicht bemerkt zu haben. Am Wohnzimmertisch sitzend, schiebe ich später unauffällig meine Fototasche vor die Füße.

„Man sagt, sie hätten maßgeblichen Einfluß darauf gehabt, daß das Treffen Reagan/Gorbatschow 1986 in Reykjavik stattgefunden hat“, leite ich ein. Doch Ólafur Grimsson wehrt ab: „Ich habe einen derartigen Einfluß auf das Treffen nie für mich beansprucht.“ Tatsächlich aber spielte Ólafur Grimsson von 1984 bis 1986 eine wichtige Rolle bei dieser Initiative.

Atomwaffen und Blumengestecke

„Wie Sie vielleicht wissen, gab es am Beginn der Gorbatschow-Regierung verschiedene Versuche, ihm und seinen engsten Beratern klarzumachen, daß es an der Zeit wäre, es mal mit neuen Waffen zu probieren, nämlich Verhandlungen mit dem Westen.“ Ólafur Grimsson, der 1973 der erste Professor für Politikwissenschaften in Island wurde, schmunzelt und lehnt sich in den beigen Samtsessel. „Ich selbst habe gedacht, daß Gorbatschow einen großen Fehler bei dem Treffen in Reykjavik gemacht hat. Reagan rückte Schritt für Schritt damit heraus, daß er dazu bereit wäre, alle Nuklearwaffen zu vernichten – eine Aussage, die Margret Thatcher veranlaßte, später nach Washington zu fliegen, um bei Reagan zu protestieren. Sie begannen einen Dialog, in dem beide darin übereinstimmten, daß alle Nuklearwaffen abgeschafft werden sollten.

Allerdings stellte Reagan eine Bedingung: Falls er bei diesem Treffen der Abschaffung der Nuklearwaffen zustimmen würde, müßte Gorbatschow im Gegenzug den Amerikanern erlauben, das Star-Wars-Programm SDI weiterzuentwickeln. Gorbatschow war nicht gewillt, das zu akzeptieren. Das hat mich immer überrascht, denn während des Gipfels traf ich mich mit Gorbatschows wissenschaftlichem Berater Velikow, dem Vorsitzenden der sowjetischen Akademie der Wissenschaften. Und der gab mir während der Tage hier in Reykjavik ein eben erschienenes Buch, verfaßt von einem sowjetischen Physiker, in dem auf wissenschaftliche Weise bewiesen wurde, daß das SDI-Programm gar nicht funktionieren könne.“

Heimir schiebt die weiße Vase mit Blumengesteck – eigentlich besteht es hauptsächlich aus Farn-, Palm- und Lilienblättern, dazwischen ein lilafarbener Blütenstand – quer über den Tisch und macht ein Foto von Ólafur Grimsson und mir. Ob und, falls ja, welche Rolle heute eine kleine Nation wie Island in der Internationalen Politik spielen könne, frage ich. Davon sei er überzeugt, sagt Ólafur Grimsson. Schließlich sei Island eines der wenigen Beispiele, wo eine kleine Nation, die lange Zeit eine arme und machtlose Kolonie war, zur vollen Unabhängigkeit gelangt sei: „Ohne Gewalt – ohne daß auch nur ein Mensch bei diesem Prozeß getötet wurde oder ins Gefängnis gekommen ist. Vielleicht wird dieser Charakter Islands, eine offene, zivile Nation mit tiefverwurzelter Demokratie zu sein, am besten durch die Residenz des Präsidenten verkörpert.“ Ólafur meint natürlich nicht das Reihenhaus, sondern Bessastadir, einen weißen Gebäudekomplex auf der Halbinsel Álftanes mit Blick auf Reykjavik. Der Hof ist seit Beginn der isländischen Geschichte besiedelt, im 13. Jahrhundert wohnte hier Snorri Sturluson, der bekannteste Autor und Politiker zu Sagazeiten. Seit 1944 ist Bessastadir offizieller Wohnsitz des amtierenden Präsidenten: „Meiner Kenntnis nach der weltweit einzige Präsidentenwohnsitz, der sich auf freiem Gelände befindet, wo es keine Absperrungen, kein Wachpersonal, keine Sicherheitskontrollen gibt. Wo jeder Mensch frei herumspazieren kann.“

Insbesondere kleine Staaten könnten von Island Anregungen und Hilfe bekommen. „Viele Menschen neigen dazu, nur auf Deutschland, Frankreich oder Rußland zu schauen, aber eine der fundamentalen Entwicklungen der letzten zehn Jahre ist das Entstehen zahlreicher kleiner Staaten. Viele von ihnen schauen nicht nur nach Island, weil es für sie ein Beispiel alter demokratischer Tradition darstellt, sondern auch, um zu sehen, wie wir auf kleinerer Ebene Probleme angegangen sind, die ein moderner Staat lösen muß. Sie kommen hierher und sehen – in einer Art Mikrokosmos –, wie die Computerisierung der Verwaltung organisiert worden ist, wie das Gesundheitssystem und die Hochschulbildung funktionieren oder wie unsere Fernsehstationen arbeiten.“ Als sich Estland vor einigen Jahren für unabhängig erklärte, war Island das erste Land der Welt, das den neuen Staat anerkannte.

„Nun“, wirft Ólafur Grimsson ein – und er sagt natürlich nicht „nun“, sondern „well“, da das Gespräch auf englisch geführt wird –, „ich glaube, das war auch deshalb, weil wir beinahe instinktiv die Verwandtschaft mit der kleinen Nation in der baltischen Region, in ihrem Versuch, die Unabhängigkeit zu erringen, spürten.“ Zweimal blitzt das Blitzlicht auf, der Fotoapparat macht klackklack.

„Haben Sie noch weitere Fragen?“ Ein Sonnenstrahl hat die graue Wolkenschicht durchbrochen, dringt durch das Fenster, vorbei an den beigen, fast transparenten Stoffvorhängen, hinunter auf den hellgrauen, plüschigen Teppichboden. „Ich las, sie würden jeden Morgen mit den Küstenseeschwalben reden. Wie ist das zu verstehen? Worüber reden Sie?“ „Nun, ich spreche nicht jeden Morgen zu den Seeschwalben. Die Seeschwalbe ist einfach nur einen Teil des Jahres hier. Wie sie wissen, ist sie ein Zugvogel...“

“...der längere Strecken zurücklegt als jeder andere Vogel...“

„Der interessante Aspekt dabei ist, daß sie jedes Frühjahr kommt, sich nur wenige hundert Meter von meiner Wohnung niederläßt, dort drei Monate bleibt, Eier legt und – nachdem die Küken geschlüpft sind – ausgesprochen aggressiv wird...“

„...diese Erfahrung habe ich im Naturschutzgebiet Seltjarnarnes gemacht.“

„Das ist genau die Gegend, in die ich im Sommer jeden Morgen zum Joggen gehe. Dann kommen sie, um mich anzugreifen. Ein sehr aufregender Tagesbeginn und ein gesunder dazu. Also, ich vermisse sie sehr, wenn sie im Spätsommer fortziehen. Und ich warte darauf, daß sie wiederkommen. Ich hoffe nur, daß es in Bessastadir auch ein paar dieser Seeschwalben gibt.“ Ólafur lacht bei seinen Worten. Das Licht im dezent cremefarben gehaltenen Wohnzimmer spiegelt sich im Kupfer der Kaminhaube, im goldenen Pendel der alten Standuhr, den Kerzenhaltern und den überall im Raum verstreuten Blumensträußen und -gestecken. Letztere sind wahrscheinlich verspätete beziehungsweise besonders haltbare Glückwunschgeschenke. Nun wird mir auch klar, was es mit dem sonderbaren Blättergesteck auf dem Tisch auf sich hat: Die verdorrten Blumen eines einst üppigen Straußes sind entfernt worden. Nur die frischgebliebenen grünen Teile und die Trockenblume sind übriggeblieben.

„Noch eine Fragen zum Thema Elfen. Viele IsländerInnen glauben an die Existenz von Elfen, Zwergen und Huldufólks. Wie sieht es mit Ihnen aus? Haben Sie eine Beziehung zu diesen Geschöpfen?“

Ólafur Grimsson lächelt und umklammert die rechte Hand mit der linken: „Nun, das kommt ganz darauf an. Ich bin in den Westfjorden aufgewachsen, und dort ist der Glaube an Elfen und so sehr stark. Waren Sie schon mal dort?“ „Ja“, erwidere ich wahrheitsgetreu, „ich war in Isafjördur und habe mir die Elfenkarte von dort gekauft.“ „Es gibt andere Gebiete, wo es noch mehr Elfen gibt. Aber woran wir bei uns in den Westfjorden geglaubt haben, das waren eher die Trolle als die Elfen. Wir dachten, diese Wesen seien weit aufregender und interessanter als Elfen.“ Ólafur nickt bestätigend.

„Im Gegensatz zu Trollen in Norwegen, Schweden und Dänemark sind die isländischen riesengroß“, behauptet Heimir, während wir zum Abschied Richtung Haustür streben. Irgendwie geht es auf einmal sehr schnell, und plötzlich stehe ich im Badezimmer, wo sich Gudrun Katrin Dórbergsdóttir gerade die Haare macht. Überrascht wendet sie den Kopf. „Oh“, entfährt es mir, doch sie lächelt nur wie eine Elfe und weist mir den Weg.