Unglaublicher Platscher

Mit leichten Abstrichen graust mir zufrieden, sagt Olympias Geist: Die Spiele – wie sie wirklich waren  ■ Aus Atlanta Matti Lieske

Der Olympische Geist sitzt seit Jahren in einer Colaflasche gefangen. Aber einmal brach er in den vergangenen zwei Wochen aus und tauchte an ausgewählten Stätten der „Centennial Olympic Games“ in Atlanta auf, um herauszufinden, ob die Spiele eigentlich noch etwas mit seiner Wenigkeit zu tun haben oder ob er doch besser wieder für 1.500 Jahre in Tiefschlaf versinken sollte.

Erste Stätte: Das Olympische Dorf

Auch wenn sie noch so sehr klagen, daß erst das Geschäft, dann die Funktionäre und ganz am Ende sie selbst kämen, bleibt Olympia für die Athletinnen und Athleten dennoch ein und alles. Solch herzzerreißende Szenen wie beim Ringen, Boxen oder Judo, wenn jemand im Viertelfinale ausscheidet, die Medaille dicht vor Augen, beim Turnen, wenn ein falscher Schritt vier Jahre lang gehegte Träume beendet, oder beim Tischtennis, wenn ein verzogener Schmetterball nach mehreren vergebenen Matchbällen den urplötzlichen Fall in ein tiefes Loch bewirkt, das alles gibt es bei keiner anderen Sportveranstaltung. Niemals sagt ein Verlierer, daß er sich bei der nächsten WM revanchieren werde. Sofern sie nicht sofort aufhören, verkünden alle nur den einen Satz: „In vier Jahren bin ich wieder dabei.“

Für Angehörige vieler Sportarten ist Olympia die einzige Gelegenheit, im Rampenlicht zu stehen. Aber auch hartgesottene Berufssportler wie Tennis-, Basketball-, Fußball- oder Radprofis betonen hartnäckig die Einzigartigkeit der Spiele. Fußballstars wie Romario und Bebeto stritten heftig um ihre Atlanta-Teilnahme. Rolf Sörensen, dänischer Silbermedaillengewinner im Straßenrennen, begeistert vor allem „die Sache mit den Medaillen“; bei sonstigen Radrennen sind zweite und dritte Plätze praktisch wertlos. Alle äußern sich begeistert über die Möglichkeit, Sportlerinnen und Sportler anderer Disziplinen kennenzulernen.

Monica Seles hatte kaum Zeit zum Tennisspielen, weil sie ständig im Dorf oder bei Wettkämpfen unterwegs war, und selbst Michael Jordan bedauerte „ein kleines bißchen“, diesmal nicht dabeizusein. Dann fing er an, von seinen Olympia-Erfahrungen zu schwärmen – denen von 1984 in Los Angeles allerdings. Damals wohnte er als relativ unbekannter College-Basketballer im Dorf und freundete sich mit der Turnerin Mary Lou Retton sowie vielen anderen Leuten aus verschiedensten Ländern an. 1992 hingegen sei das Dream Team viel zu abgekapselt gewesen. Da habe er kein „olympisches Gefühl“ gehabt. Der Geist ist zufrieden und huscht weiter.

Zweite Stätte: Der Georgia Dome

Trotz häufiger nationalistischer Ausfälle besitzen die USA das beste Sportpublikum der Welt. Dies heißt nicht, daß die Leute unaufhörlich jubeln, wie das legendäre und nervtötende Stuttgarter Publikum bei der Leichtathletik-WM 1993. Das kam damals vor lauter Ola kaum zum Zugucken. Die Amerikaner brauchen sportliche Highlights zum Ausflippen. Dafür interessieren sie sich für alles, kommen in Scharen und sind auch für fremdartige Leibesübungen leicht zu begeistern. „85.000 bei der Morgenveranstaltung der Leichtathletik“, staunte der britische 400m- Silbermedaillen-Gewinner Roger Black, „das habe ich noch nie erlebt. Unglaublich.“ Ob Badminton, Handball, Fußball, die riesigen Arenen waren voll. Das galt auch für die Vorkämpfe beim Boxen, die bei der WM in Berlin vergangenes Jahr nicht mal hundert Zuschauer angelockt hatten. Dies wurde auch, wie schon bei der Fußball-WM 1994, durch einen flexiblen und effektiven Kartenvertrieb möglich, der die Schwarzhändler zwang, die meisten Tickets weit unter Nennwert zu verkaufen.

Der vielkritisierte überbordende Nationalismus machte sich besonders beim Schwimmen, Volleyball und Frauenturnen bemerkbar. Vor allem letzteres war ein Problem, weil an vier Geräten gleichzeitig geturnt wird. Zumindest die Bodenübungen hätten beim Parallelauftritt einer US-Akteurin unterbrochen werden müssen. Dennoch bekam auch die ausländische Konkurrenz ihren Beifall. Sogar Homeruns der kubanischen Baseballspieler gegen die USA wurden beklatscht, US-Boxer ausgepfiffen, wenn sie nach Meinung der Zuschauer unverdient gewonnen hatten.

Reggie Miller vom Basketball- Dream-Team beklagte sich, daß die Fans im Georgia Dome nach kurzer nationalistischer Höflichkeitspause manchmal angefangen hätten, die inferioren Gegner anzufeuern. Von der Aggressivität europäischer Fans, etwa beim Fußball oder Davis-Cup, war nichts zu spüren. Unangenehmer fielen da schon die deutschen Anhänger mit ihrem „Attacke“-Gebrüll und den hämischen Sprechchören à la „Ihr könnt nach Hause fahr'n“ auf.

Derartiger Spott für die Verlierer ist dem US-Publikum fremd; daß es seinen Leuten zujubelt, kann man ihm kaum vorwerfen. Mit leichten Abstrichen in Ordnung, sagt der Olympische Geist.

Dritte Stätte: Das Hauptpressezentrum

Das öffentliche Bild einer solchen Veranstaltung wird geprägt von den Medienvertretern und ist stark abhängig von deren Laune. Die ist meistens schlecht. Stets in Eile, sind sie besonders empört über chaotischen Transport und miesen Informationsfluß. Wegen der Zeitverschiebung sind die europäischen Journalisten zudem notorisch unausgeschlafen und extrem intolerant gegen die streng bürokratische, ziemlich unflexible und oft komplett unlogische Handhabung von Vorschriften und Regeln. Hinzu kommt die große Häßlichkeit jener Stadtgegenden, in denen sie sich bewegen. Der Unmut schlägt sich in entsprechender Berichterstattung nieder. Mehr Gelassenheit, empfiehlt der Geist. Leicht gesagt, entgegnet der Reporter.

Vierte Stätte: Centennial Olympic Park

„Die Spiele der Werbung“, kritisiert sogar Top-Selbstvermarkter Michael Jordan. Der Schauplatz des Bombenattentats war auch das Herzstück der Kommerzialisierung. Selbst in den diesbezüglich hartgesottenen USA gibt es Kritik am Marketing-Overkill, der vor allem die Besucher in Atlanta trifft, da die via TV präsentierten Wettkampfstätten ja immer noch werbefrei sind. Es sei denn, man schaut auf die Schuhe, oder es gelingt McDonald's, sein Logo so hoch zu hängen, daß es bei der Eröffnungsfeier über den Köpfen der einmarschierenden Athleten schwebt.

„Eine Zeltstadt wie aus dem Film ,M.A.S.H.‘“, nannte Dick Pound vom IOC die Marketingmeile, die vormals Atlanta Downtown hieß. Er meinte allerdings die von der Stadt vermieteten „wilden“ Verkaufsstände und nicht die seiner geliebten Olympiasponsoren, welche vorzugsweise im Park angesiedelt waren. Mary Lou Retton entdeckte „mehr berühmte Sportler bei den Parties ihrer Ausstatter als in den Arenen“. Besonders clevere wie Pepsi-Werber Shaquille O'Neal versteckten bei offiziellen Pressekonferenzen sogar die Coca-Cola-Becher hinter ihrem Namensschild. Pepsi, so höhnen böse Zungen, sei die einzige verbotene Substanz bei Olympia.

Experten hatten schon vor der Bombe von großen Imageschäden für die beteiligten Firmen gesprochen, die die „Summer Games“ von Atlanta in die „Summer Shames“ der Marketingwelt (USA Today) verwandelt hätten. Das sei wie bei einem Turmspringer, sagt der Psychologe Harry Levinson, „der einen Punktabzug bekommt, weil er einen zu großen Platscher macht“.

Die Kauflust der Olympiagäste wurde dadurch nicht gemindert. Am Super Store im Park standen Schlangen von hundert Meter Länge. Rund eine Milliarde Dollar Merchandising-Einnahmen für T- Shirts, Tassen, Badehosen mit dem Flammensymbol erwarten die Veranstalter.

Mir graust, spricht der Geist, wird aber sogleich von Dick Pound eingefangen und wieder in seine Flasche gesteckt. Shaquille O'Neal wird es nicht sein, der ihn befreit.