■ Der Freispruch für den ehemaligen SS-Hauptsturmbannführer Erich Priebke treibt die Menschen im früheren jüdischen Ghetto von Rom auf die Straße. Die meisten sind fassungslos und dem Weinen nahe
: Wutausbrüche um Mitternacht

Der Freispruch für den ehemaligen SS-Hauptsturmbannführer Erich Priebke treibt die Menschen im früheren jüdischen Ghetto von Rom auf die Straße. Die meisten sind fassungslos und dem Weinen nahe

Wutausbrüche um Mitternacht

Das Viertel jenseits des Lungotevere dei Cenci zeichnet sich gewöhnlich nicht durch besondere Quirligkeit aus; enge Gassen und patinabehaftete Wohnblocks aus dem vorigen Jahrhundert, ein paar meist nicht einmal im Reiseführer verzeichnete Relikte des alten Rom. Das einzig hervorstechende Gebäude liegt direkt an der Tiberpromenade, die Synagoge. Das ehemalige Ghetto Roms, wo die Päpste des ausgehenden Mittelalters die „Christusmörder“ zusammendrängten, wird allenfalls von Alternativ-Touristen aufgesucht. Ansonsten herrscht hier biedere Viertelmentalität. Noch gut dreitausend Juden leben hier, und die suchen normalerweise, nicht sonderlich aufzufallen.

Doch in der Nacht nach dem Priebke-Urteil ist aus dem biederen Viertel ein Hexenkessel geworden. Noch um Mitternacht Schreie, Wutausbrüche. Die Fernsehapparate, in den Erdgeschoßwohnungen und den Espressobars oft provokativ ans Fenster oder an die Türe gerückt, werden unentwegt durchgezappt: Um achtzehn Uhr hatte sich die Meldung vom Urteil über den ehemaligen SS- Mann Erich Priebke wie ein Lauffeuer verbreitet. Die Menschen hatten ihre Arbeit unterbrochen, die meisten waren fassungslos, viele in Weinen ausgebrochen: „Selbst dem entschlossensten Racheengel fällt da das Schwert aus der Hand“, kommentiert Moische Bianchi, ein 68jähriger Fleischhändler, den Richterspruch: „Ein Zynismus, den man allenfalls von Faschisten und Diktatoren erwartet, nicht von einem römischen Gericht“, stammelt er, in der Hand das Bild seines Onkels, der 1944 in den Ardeatinischen Höhlen hingerichtet wurde. Daß Erich Priebke nach Ansicht des Militärtribunals zwar der Beihilfe zum „besonders schweren mehrfachen Mord“ schuldig ist, doch wegen Befehlsnotstands mildernde Umstände bekommt und das Delikt damit nach italienischem Recht verjährt ist, will niemandem in den Kopf. „Welch ein Dilettantismus in diesen Gesetzen“, entrüstet sich Tullia Zevi, Sprecherin der Jüdischen Gemeinde in Rom.

Junge Bewohner der Viertels holen ihre Motorräder heraus und brausen zum Forte Boccea, dem Militärgefängnis, aus dem Priebke aufgrund der vom Gericht angeordneten sofortigen Haftentlassung herauskommen soll. Einige besonnenere Bürger nehmen ihnen gerade noch die Schlagstöcke und, in einem Fall, einen Molotowcocktail ab. „Verstehen kann ich die schon“, nickt Abramo De Benedetti, 84, ein ehemaliger KZ- Häftling, der seit Jahren bettlägerig ist und seinen Rollstuhl extra auf die Straße hat fahren lassen, weil man „in diesen Minuten bei all den anderen sein muß, um so etwas ertragen zu können“.

Die meisten Leute hier meinen, daß sie im Unterbewußtsein schon vorher mit einem solchen Urteil gerechnet hätten: „Dieser Scheißrichter hat ja alles getan, um Priebke rauszuhauen“, ereifert sich ein Anwohner. Viele Menschen in diesem Viertel wissen nahezu alle Details der Verhandlungen auswendig: Wie viele Nebenkläger er zurückgewiesen hatte (68 von 86), wie viele Beweisanträge der Anklage er abgewehrt hatte (71), wie oft er Zeugen das Wort abgeschnitten hat (über 80mal) und welche Bemerkungen er außerhalb des Gerichts bereits früher zum Verfahren gemacht hatte: „Da konnte man überhaupt nichts Korrektes erwarten“, resümiert Ercole D'Ambrosino, selbst Rechtsanwalt. Gegen 23 Uhr wird bekannt, daß Priebke vor drei Stunden, abgeschirmt von Carabinieri und Polizei, das Gefängnis verlassen hat. Dort hat es sogar Schlägereien mit den Ordnungshütern gegeben. Gegen Mitternacht droht die Lage zu eskalieren. Mehrere Mannschaftswagen der Polizei und der Carabinieri sind vorgefahren, einige parken nahe der Piazza Farnese bei der französischen Botschaft, andere gleich hinter der Synagoge. Fußstreifen sind allerdings nicht zu sehen. Das Blaulicht wird nach einiger Zeit abgestellt. Unvermittelt findet man sich in einer Situation, Marke „Ruhe vor dem Sturm“. Die lärmenden Anklagen sind jetzt fast ganz verstummt, die Fernsehapparate leiser gestellt, in den Polizeiwagen brennt fahles Licht.

Die Ghettobewohner würden sich „heute nicht einmal mehr wundern, wenn die Polypen uns nach diesem Urteil schon mal vorsorglich zusammenschlagen, damit wir nicht auf die Idee eines Protestes kommen“, sagt Moische leise. Eine kleine Schar älterer Juden macht sich auf den Weg zur nahen Via Arenula, dem Sitz des Justizministeriums: Vielleicht ist dort zu erfahren, wie es weitergeht.

Die Vermutung trügt nicht. Es ist der neue Justizminister Gianni Maria Flick, der die Lage entspannt. Kurz nach ein Uhr erscheint er höchstpersönlich vor den Leuten, fährt zum Forte Boccea und gibt schließlich bekannt: „Erich Priebke ist soeben auf meine persönliche Anordnung wieder festgenommen worden. Er wird 96 Stunden festgehalten, um den deutschen Behörden, die einen internationalen Haftbefehl gegen ihn erlassen haben, Gelegenheit zur Übermittlung ihrer Anklagepunkte und Beweismittel zu geben.“ Da gleichzeitig die Nachricht aus Argentinien kommt, sein vormaliges Zufluchtsland werde ihn nicht wieder aufnehmen, sehen nun doch manche die Chance, diesen Mann nicht unbehelligt davonziehen zu lassen.

Entsprechend ändern sich noch in der Nacht die Kommentare, die das Fernsehen aus Politikermund übermittelt. Waren viele Stellungnahmen zunächst abwartend gewesen, weil man die genaue Urteilsbegründung erst in einigen Wochen erhalten wird, so treten nun einige Politiker aus dem linken wie dem rechten Lager vor die Kameras und sprechen von einer „weisen Entscheidung der Regierung“. Selbst Neofaschisten-Führer Gianfranco Fini findet den Urteilsspruch nun eine „Schande“ – wobei er allerdings das Wort „moralisch“ hinzufügt.

Der Unmut der Menschen im ehemaligen Ghetto legt sich langsam. Abramo, der Weise, wird allerdings einen Verdacht nicht los: „Ich glaube zwar, daß Minister Flick ein ehrenwerter Mann ist. Aber entscheiden werden über die Auslieferung wieder unsere Gerichte – und dann könnte es sein, daß die Verhaftung heute nacht lediglich aus unsrer Wut die Luft rausläßt, und wenn der Kerl dann in vier Tagen klammheimlich freigelassen wird, kriegen wir den Protest nicht wieder so wie jetzt zusammen. Und danach ist es dann einfach zu spät.“ Werner Raith