Aufwändige Reform ohne Biss

Schulanfänger sollen ab sofort neue Rechtschreibung lernen. Als Fehler wird die alte Schreibweise allerdings noch nicht gewertet. Offizielle Gültigkeit ab 1. August 1998, Übergangszeitraum bis 2005  ■ Von Isabel Fannrich

Wetttauchen statt Wettauchen, Fluss anstelle von Fluß: Einzig für die diesjährigen Schulanfänger in Berlin werden die neuen Rechtschreibregeln nichts Befremdliches haben.

Am 1. Juli 1996 beschlossen die Bundesrepublik Deutschland, Österreich und die Schweiz die Rechtschreibreform in einer zwischenstaatlichen Erklärung. Um die Erlernbarkeit der deutschen Schriftsprache zu erleichtern, wurde die Zahl der Kommaregeln von 52 auf 9, die der Rechtschreibregeln von 212 auf 112 reduziert. Fremdwörter wurden zum Teil lautlich angepaßt: Statt Bouclé wird man künftig Buklee schreiben.

Doch erst ab August 1998 treten die neuen Regeln bundesweit für alle Schüler in Kraft. In einer Übergangszeit bis zum Jahr 2005 wird die Neuregelung gelehrt, ohne daß die bisherige Schreibweise als Fehler angestrichen wird. Wie in den nächsten zwei Jahren bis zum Inkrafttreten der Reform mit dem neuen Lernstoff umgegangen wird, bleibt jedem Bundesland selbst überlassen.

In Berlin „können“ laut Senatsschulverwaltung „alle Schüler und Schülerinnen mit der neuen Schreibung vertraut gemacht werden“. Bei der Korrektur der Klassenarbeiten und Klausuren bleiben jedoch „die bisherigen Regelungen verbindlich“. Für die Erstkläßler „soll“, wie in Baden-Württemberg und Niedersachsen, die Neuregelung „angemessene Berücksichtigung finden“.

Seinen Höhepunkt findet das chaotische Nebeneinander von alter und neuer Schriftsprache in der Finanzmisere des Berliner Haushalts. Zwar haben die marktführenden Schulbuchverlage wie Cornelsen und Schroedel schon auf die Reform reagiert und einen Teil der Schulbuchtitel auf die neue Schreibweise umgestellt. Aber die Schulen haben kein Geld für die neuen Schulbücher. Laut Senatsschulverwaltung werden die alten Bücher „entsprechend dem Verschleiß turnusgemäß aussortiert“. Auf Jahre hinaus werden Schulbuch-Oldies mit der alten Schreibweise parallel zu solchen mit der reformierten Rechtschreibung existieren.

Auch die 36.110 Abc-Schützen werden noch nach der alten Fibel lernen. Dies ist eines der wenigen Bücher, das jeder Schulanfänger jedes Jahr neu bekommt. Aber die Bestellung der Fibeln erfolgte bereits, bevor die Verlage reagieren konnten. Mascha Kleinschmidt- Bräutigam vom „Berliner Institut für Lehrerfort- und Weiterbildung“ (BIL) wendet ein, daß die Erstkläßler kaum von der Neuschreibung berührt seien: „In den Fibeln sind nur wenige Wörter von der Veränderung betroffen. Diese können per Hand korrigiert werden.“ Rechtschreibregeln lernten die Kinder ohnehin erst in den darauffolgenden Jahren.

So bleiben die Verlage in den Startlöchern hängen und lamentieren über das Verlustgeschäft. Gert Sonnenfeld vom Schroedel-Verlag: „Die Umstellung jedes Titels kostet uns 10.000 Mark. Da der Senat spart, setzen wir nicht ein Buch zusätzlich um.“ Er setzt auf das Ende der Lernmittelfreiheit: „Der Druck wird zunehmen, Lernmittel anders zu finanzieren.“

Mehr Probleme mit der Reform machen aber die Lehrer. Weil sie sich mit den neuen Regeln noch nicht auskennen, startet das Berufs- und Infozentrum BIL in den nächsten Monaten eine Informationsoffensive: Am 12. September findet ein Fachforum für Multiplikatoren statt, eine zentrale Infostelle soll eingerichtet, Arbeitsgruppen sollen gebildet werden. In erster Linie werden Schulräte und -leiter, Vertreter der Bezirksfachkonferenzen sowie Leiter des Fachbereichs Deutsch über Inhalte und Didaktik der Reform informiert. Diese tragen als Multiplikatoren ihr Wissen an Eltern und andere Lehrer heran. In den folgenden Wochen wird Frau Kleinschmidt zunächst die Lehrer der ersten Klassen schulen, da sie als erste mit der Vermittlung der Rechtschreibreform zu tun haben.

Gerhard Voigt-Schneekloth vom Berliner Zweig der „Gesellschaft für Deutsche Sprache“ empfindet die öffentliche Aufregung um die „Minireform“ als unangemessen: „Der Duden hat bisher in jeder Neuauflage eine kleine Rechtschreibreform vorgenommen. Die vorgenommenen Veränderungen sind jedoch nie in das Bewußtsein der Öffentlichkeit vorgedrungen.“

Voigt-Schneekloth ist Deutschlehrer an einem Charlottenburger Gymnasium und grundsätzlich für die Reform. „Die meisten Schüler und Lehrer stehen aber der Reform ablehnend gegenüber. Die Veränderung löst verständlicherweise Unbehagen und Angst vor einem Identitätsverlust aus.“ Die Eltern seien vom bildungsbürgerlichen Schlag und wollten keine Lernerleichterung für ihre Kinder. Am beharrlichsten seien jedoch die Lehrer mit „ihrer naiven Sicherheit, zu wissen, wie Rechtschreibung richtig ist“.

Für zu begrenzt halten GEW und Grundschullehrer die Neuregelung. Sabine Dübbers von der GEW hätte eine Ausweitung auf die „gemäßigte Kleinschreibung“ befürwortet: „Kinder sollen ihre Kraft nicht beim Erlernen von Großschreibregeln verballern.“

Auch Ellen Hansen, Schulleiterin der Werbellinsee-Grundschule in Schöneberg, ist skeptisch: „Die Reform war dringend fällig, aber halbherzig. Es werden gewaltige Kosten auf uns zukommen, warum hat man also nicht gleich konsequent reformiert? Die Befürworter der Großschreibung werden irgendwann aussterben.“

Monika Ribitzki vom „Arbeitskreis Neue Erziehung“: „Diese Reform lenkt nur ab von den aktuellen, wirklich gravierenden Problemen an den Schulen.“