Der Student von heute: eine Bohnenstange

■ Studierende werden immer größer. Haltungsschäden sind die Folgen

Die deutschen Studenten wachsen ihren Professoren über den Kopf – und das auch noch immer schneller. „Akzeleration“ nennt Professor Georg Kenntner, Sportwissenschaftler an der Universität Karlsruhe, dieses Phänomen: einen „beschleunigten Wachstums- und Reifeprozeß“, der sowohl die körperliche als auch die sexuelle und geistige Reife betrifft.

Mit dem Geistes- und Liebesleben der Studierenden beschäftigt sich Professor Kenntner allerdings weniger intensiv – er interessiert sich vor allem für ihre Körpermaße. Schon seit über dreißig Jahren vermißt er die TeilnehmerInnen des Karlsruher Hochschulsports. Dabei erfaßt er Daten zu Körpergröße, Gewicht, Schulterbreite, Brust- und Halsumfang. Im Archiv der Universität hat er außerdem noch Erhebungen aus den zwanziger Jahren ausgegraben.

1920 war die durchschnittliche Studentin noch 1,61 Meter groß – 1933 war sie sieben Zentimeter länger. Ihre männlichen Kommilitonen legten in den letzten 70 Jahren sogar ganze elf Zentimeter zu: von 1,71 auf 1,82 Meter. Allein seit 1960 nahm ihre Durchschnittsgröße um fast sieben Zentimeter zu. Wenn dieses Wachstum kontinuierlich so weitergehen sollte, dann wird im Jahre 2060 der Student im Durchschnitt 1,93, die Studentin 1,76 Meter groß sein.

Laut Kenntner können derzeit noch „keine eindeutigen Aussagen über die Ursachen“ gemacht werden. Es gibt da beinahe so viele verschiedene Vermutungen wie Wissenschaftler. Der „Faktor Ernährung“ beispielsweise kann nicht „als einzige Ursache“ betrachtet werden. Die geographische Herkunft scheint zumindest keine Rolle zu spielen: Süddeutsche Studierende sind genauso groß wie norddeutsche. Dagegen gibt es eindeutige Unterschiede nach der sozialen Herkunft. Kinder aus Arbeiterfamilien sind kleiner als Sprößlinge von Angestellten, Geschäftsleuten oder Akademikern. Während diese Unterschiede in den 20er Jahren noch mehrere Zentimeter ausmachten, haben sich heute die Körpergrößen der verschiedenen sozialen Gruppen weitgehend angeglichen.

Im Uni-Alltag haben die Riesenstudis vielleicht Vorteile: besseren Überblick, Hinunterschauen auf kleinere Professoren. Für die Gesundheit sind dagegen das immer schnellere Körperwachstum und die immer höhere „Endgröße“ der Erwachsenen gar nicht gut. Kenntner verweist auf eine „stärkere Belastung des Herzens, Kreislauffehlfunktionen, schnellere Ermüdung, frühzeitigeren Organverschleiß, aber auch häufige motorische Defizite“.

Voller Mitleid fordert deshalb Kenntner, die Lehrpläne für den Sportuntericht zu ändern. Geräteturnen sei nur für kleine Leute geeignet. „Größerwüchsige, leptomorphe Konstitutionstypen“, die gelegentlich verächtlich als lange schmale Bohnenstangen bezeichnet werden, seien dagegen, „für Sportarten wie Basketball oder Handball prädestiniert“. Im Schulsport muß nach Kenntner der Akzent auf Spiele, Gymnastik und Bodenturnen verlagert werden – sonst bekommen die langen Lulatsche Haltungsschäden, Rücken- und Gelenkbeschwerden. Die Menschen werden heute einfach größer, als es ihr Skelett verträgt. Martin Ebner