„Die Machthaber haben sich diskreditiert“

■ Der Reformer Schejnis sieht im Tschetschenienkrieg eine Gefahr für Rußlands Demokratie

taz: Nachdem die Kriegshandlungen wieder ausgebrochen sind, erscheint das vor den Wahlen abgeschlossene Waffenstillstandsabkommen als reine Bauernfängerei. Viele WählerInnen bezweifeln heute, daß ihre Stimme und Meinung für irgend jemanden zählen.

Viktor Schejnis: Richtig! Die Wahlen haben die schlimmste Bedrohung abgewendet, die kommunistische Revanche. Aber die neu gewählten Machthaber haben sich selbst schwer diskreditiert, wovor wir übrigens gewarnt haben. Viele warfen Jabloko vor, daß wir uns vor dem letzten Wahlgang nicht uneingeschränkt hinter Jelzin stellten. Wir konnten das nicht, weil wir seinen Schritten im Wahlkampf mißtrauten.

Heute sehen wir, wie die demokratischen Institutionen entwertet werden. Wichtiger noch: Es herrscht wieder Krieg im Land. Verletzungen des Waffenstillstandsabkommens gab es von beiden Seiten, aber die eigentliche Eskalation der Kampfhandlungen geht von den föderalen Streitkräften aus.

Wie konnte das passieren?

Alle Meinungsumfragen zeigen, daß unsere Gesellschaft gegen den Krieg in Tschetschenien ist. Aber die Machthaber führen diesen Krieg, ohne sich nach der Gesellschaft umzublicken. Das zeugt doch davon, daß wir die Hauptaufgabe noch nicht gelöst haben: als Gesellschaft auf unsere Machthaber einzuwirken.

Rußland ist also mit diesen Wahlen der Demokratie kein bißchen näher gerückt?

Einen Schritt weit schon. Immerhin haben die jetzt Regierenden ihr Mandat nicht von irgendeinem Zentralkomitee oder Verschwörergrüppchen. Aber die Bewegung unserer Gesellschaft hin zur demokratischen Gesellschaftsform ist noch umkehrbar.

Könnten Sie das beschreiben?

Die Unsicherheit ergibt sich aus drei Momenten: erstens aus der schwierigen wirtschaftlichen Lage. Den zweiten Faktor bildet der Gesundheitszustand Boris Nikolajewitschs. Das ist eine unbekannte Größe. Drittens ist die neue politische Kräfteverteilung noch nicht klar. Das Konglomerat von Leuten, die diese Präsidentenwahlen gewonnen haben, ist äußerst heterogen. Autoritäre Tendenzen kommen nicht nur im kommunistischen Lager vor, sondern auch in der Politik des Präsidenten.

Hat Jabloko bisher etwas gegen die Wiederaufnahme der Kampfhandlungen unternommen?

Leider existiert kein Mechanismus, mit dessen Hilfe man das alles stoppen könnte. Am 12. Juli hat unsere Fraktion eine Erklärung gegen die Wiederaufnahme der Kampfhandlungen abgegeben. Die Duma wollte sie wegen der Ferien nicht diskutieren. Das haben die Befürworter der Gewalteskalation zynisch genutzt.

Was könnte denn die Duma überhaupt gegen den Krieg tun?

Sie könnte versuchen, eine Reihe von Gesetzen durchzusetzen. Vor allem könnte sie die Finanzierung dieses Kriegs verweigern. Außerdem hat sie die Möglichkeit, den Streitkräften die Teilnahme an diesem Krieg zu verbieten. Und sie könnte eine scharfe Resolution gegen den Krieg verfassen. Das wäre zwar keine juristisch wirksame Maßnahme, aber sie würde damit doch merklichen moralischen Druck ausüben.

Sehen Sie überhaupt noch eine Chance für einen Frieden in Tschetschenien?

Es ist eine sehr naive Vorstellung, daß man den bewaffneten Formationen militärisch den Garaus machen könne. Ich bin sicher, daß als Antwort darauf Terroraktionen folgen werden. Und daß die föderalen Streitkräfte letztlich nicht anders können, als wieder mit jenen Kräften zu verhandeln, denen sie real gegenüberstehen. Interview: Barbara Kerneck

Viktor Leonidowitsch Schejnis, 65, gehört der liberalen Jabloko-Fraktion in der Duma an. Er ist Mitglied der Kommission für Gesetzgebung und Rechtsreform.