: Reicht Erleiden des Grauens als Asylgrund?
■ Gestern verhandelte das Bundesverwaltungsgericht über diese Frage. Es ging um den Asylantrag von bosnischen Muslimen, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden
Berlin (taz) – Sind die Vertreibung und die Greueltaten, die bosnische Muslime in den serbisch besetzten Landesteilen ihrer Heimat erlitten haben, nach dem deutschen Asylrecht als politische Verfolgung zu bewerten? Mit dieser Frage hat sich gestern in höchster Instanz das Bundesverwaltungsgericht befaßt. Eine Entscheidung lag bis Redaktionsschluß allerdings noch nicht vor.
Mit einer ungewöhnlichen Entschuldigung eröffneten die Richter das Verfahren: „Wir sind uns voll bewußt, daß wir hier über die schlimmsten Geschehen zu befinden haben, die seit dem Zweiten Weltkrieg passiert sind. Doch auch mit den schlimmsten Dingen müssen wir nach unserer Rechtsordnung umgehen“, wandte sich der Gerichtsvorsitzende an die im Saal sitzenden Betroffenen, zwei muslimische Familien aus dem serbisch besetzten Nordosten Bosniens.
Um Asylgesuche ging es, doch indirekt hatten die Richter in höchster Instanz auch über das Schicksal der übrigen bosnischen Flüchtlinge zu entscheiden, die aus serbisch besetztem Gebiet in die Bundesrepublik geflohen sind. Ihre Zahl wird auf über 100.000 geschätzt. Im sicheren Vertrauen auf den lange Zeit gültigen Abschiebestopp haben bisher nur die wenigsten von ihnen Asyl beantragt. Mit der Androhung des Bundesinnenministers, die Rückführung nach Bosnien im Oktober zu beginnen, könnte sich das jedoch ändern.
Unmittelbar nach ihrer Ankunft im Sommer 1992 hatten die beiden Familien Asyl beantragt. Ihr Antrag wurde abgelehnt, die sofortige Abschiebung angedroht. Im Beschwerdeverfahren gaben die Verwaltungsgerichte ihrem Gesuch statt. Bosnische Muslime, so hatte das Oberverwaltungsgericht Münster im Mai 1995 entschieden, seien in ihrer Heimat einer „politisch motivierten Gruppenverfolgung durch die Serben“ ausgesetzt. Dabei sahen die Richter zwei wichtige Voraussetzungen für die Anerkennung nach deutschem Asylrecht erfüllt: Die Vertreibung und Mißhandlung der bosnischen Muslime seien keine Taten unkontrollierter Banden gewesen, sondern von einer „quasi staatlichen Hoheitsgewalt“ der Serben organisiert und gefördert worden. Gegen diese Entscheidung hatte der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten Berufung eingelegt. Der Krieg im ehemaligen Jugoslawien sei gar kein Bürgerkrieg, erklärte er als Vertreter der Bundesregierung auch gestern vor Gericht, sondern ein Angriffskrieg. Und für die Opfer von Kriegen zwischen zwei oder mehreren Staaten sei das Asylrecht nicht zuständig. Die bosnischen Muslime hätten außerdem den Schutz „ihres Staates“ in Anspruch nehmen können. Vera Gaserow
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