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: Rahmen aus gesprengtem Ostbahnhof

Russkij Berlin heißt eine neue Wochenzeitung, Spiegel der Geheimnisse ein weiteres russisch- jüdisch-deutsches „Magazin“. Darüber hinaus gilt es, die Eröffnung eines neuen russisch- jüdisch-deutschen Galerie-Cafés namens „Aus dem Rahmen“ (Luitpoldstraße 1, in Schöneberg) zu vermelden. Beim ersten Besuch, als zwei Cellisten dort aufspielten, unterhielt ich mich mit einer armenischen Buchhändlerin über dieses Phänomen: daß die in Berlin lebenden Türken, Kurden und Polen bis heute eher pragmatische Selbstversorgungsläden eröffneten, während die Russen, Ukrainer und sowjetischen Juden sofort und zunehmend Kulturzeitungen oder -einrichtungen gründeten.

Die Armenierin führte das auf den Hang und Zwang zur Geschäftemacherei zurück, während ich genau vom Gegenteil überzeugt war und bin: vom mangelnden Geschäftssinn der ehemaligen Sowjetbürger, deren intellektuelle Identitätsbalance eher nichtlukrativer Sinnstiftungen bedarf – als etwa gutgehender Obst- und Gemüseläden.

„Aus dem Rahmen“ ist eine Gründung des Niederlassungsleiters einer westdeutschen Firma, Hermann Werth, nach einer Konzeption der Künstlerin Irina Kaschina. Die Dichterin hat dreißig Jahre UdSSR, dreizehn Jahre DDR und sechs Jahre Westberlin hinter sich. Auf einer Halbinsel hinter Müggelheim gestrandet, fing sie, die in Deutschland „plötzlich ohne Worte war“, vor 18 Jahren an, überlebensgroße Puppen zu bauen: „um nicht so allein zu sein“. Die Mechanikkenntnisse dafür hatte sie zuvor bei Eddy Fischer in der Werkstatt des BE erworben. Die jetzt auch im Galerie-Café ausgestellten Charakterpuppen verschafften ihr dann einige Fernsehaufträge – und Ärger mit dem DDR-Künstlerverband, der sie nicht aufnehmen wollte. Nach sechs Jahren wurde ihr dann auch der Künstlerstatus wieder aberkannt.

Nach der Wende bekam sie eine ABM-Stelle im Theaterwerkstatt-Projekt „pad – Eltern und Jugendliche gegen Drogenmißbrauch“. Und nach einer kurzen Phase der Arbeitslosigkeit den Auftrag, einen lebensgroßen „Tucholsky“ für das Kabarett Kartoon herzustellen. Darauf folgte eine Umschulung zur Computergrafikerin. Das Praktikum absolvierte sie bei ihrem Bekannten Hermann Werth, indem sie das Design fürs Galerie-Café konzipierte. Am Computer gestaltet sie jetzt die Plakate und Einladungen für ihre „Musikabende“ und „Vernissagen“. Obwohl Irina Kaschina zwischen ihrem Ost-Atelier und ihrer West- Wohnung pendelt, zudem im Vorgartenlokal in der Luitpoldstraße neben dem „Programm“ auch noch täglich „russisch-ukrainisch-jüdische Gerichte“ anbietet und also kaum noch unter Einsamkeit zu leiden hat, stellt sie gelegentlich noch weitere Puppen her.

„Aus dem Rahmen“ ist zwar etwas abseits gelegen, zudem fiel die Eröffnung in die Urlaubszeit, aber mit ihrer „Doppelexistenz“ dürften Irina Kaschina und Hermann Werth wohl bald auch finanziell von ihrem „Kulturprojekt“ profitieren – und wir gleich mit! Zumindest ich, der ja von Zeilenhonorar lebt.

Gleiches gilt auch, ohne mich mit ihm vergleichen zu wollen, für Alexander Solschenizyn, der nach einer Phase durchgeknallter russischer Großraumentwürfe nun wieder ins Historisch-Kleinteilige zurückgefunden hat: „Im Zickzack“ heißt sein neuestes „Lehrstück“, abgedruckt in der Nowyi mir, in dem es um zwei exemplarische Lebensläufe geht, die auf verschlungene Weise zueinanderfinden: ein Altfunktionär und ein Intellektueller, der Banker wurde – mit einem philosophierenden KGB-Offizier als verbindendes Mittel. Bei Kaschina/Werth hat diese Funktion vielleicht das gemeinsame Projekt „Aus dem Rahmen“ inne. Helmut Höge

(wird fortgesetzt)