Als Agenten Katz und Maus miteinander spielten

■ In den fünfziger Jahren boomte das Spionagegewerbe in Berlin. Der Fall „Otto John“ war der spektakulärste. In den Sechzigern war Agentenaustausch angesagt

In der Nacht vom 20. auf den 21. Juli 1954 verschwindet Otto John, der erste Präsident des westdeutschen Verfassungsschutzes, aus West-Berlin. Am Nachmittag hatte er noch an den Feierlichkeiten zum Gedenken der Offiziere des 20. Juli teilgenommen, deren Kontaktmann zum britischen Geheimdienst er gewesen war. Am folgenden Tag ist er verschwunden. In der Wohnung eines befreundeten Arztes wird nur ein Brief gefunden, er sei in den Ostteil Berlins übergewechselt. Drei Wochen später taucht er dort auf und wird als Überläufer präsentiert. Auf einer Pressekonferenz kritisiert er scharf die Westbindungspolitik Adenauers und gibt zu verstehen, daß er sich freiwillig in der Sowjetzone aufhalte.

Als er fünfzehn Monate später aus dem Osten zurück in den Westen flieht, wird er verhaftet und wegen „landesverräterischer Konspiration“ angeklagt. Er beteuert seine Unschuld und erklärt, unter Drogeneinfluß verschleppt worden zu sein. Seine Äußerungen im Osten seien durch Drohungen von ihm erpreßt worden. Obwohl ihm keinerlei Geheimnisverrat nachgewiesen werden kann, verurteilt ihn der Bundesgerichtshof zu vier Jahren Zuchthaus. 1958 wird er nach dem Verbüßen von zwei Dritteln der Strafe begnadigt.

Der Fall „Otto John“ war das spektakulärste Ereignis in einer ganzen Reihe von Spionagefällen in den fünfziger Jahren, die Berlin zum Schauplatz hatten. Nirgendwo auf der Welt waren die verfeindeten Supermächte auf so engem Raum mit großen Militärbasen vertreten, und nirgendwo war die politische Symbolik so aufgeladen wie hier.

Die geographische Lage als Inselbastion des Westens im Osten verlieh Berlin eine hohe strategische Bedeutung. Und Ereignisse wie die Berlinblockade oder der Aufstand des 17. Juni überhöhten diese reale politische Bedeutung noch symbolisch. In Berlin war der Kalte Krieg als Konflikt innerhalb einer Stadt sichtbar. Dazu kam die rechtliche Situation in der Stadt. Der Viermächtestatus enthob die Alliierten von allzu harscher Kontrolle seitens der Berliner Behörden. Das gab den Geheimdiensten große Bewegungsmöglichkeiten. Selbstverständlich waren es vor allem die vier Siegermächte, die Berlin als Operationsgebiet für ihre Geheimdienste nutzten.

Der spektakulärste Fall alliierter Spionagetätigkeit in Berlin war der Skandal um den Rudower Tunnel im April 1956. In monatelanger Kleinarbeit hatte das amerikanische Militär einen 500 Meter langen Stollen in den Boden getrieben. Unter der Sektorengrenze hindurch führte er an die Telefonleitungen der sowjetischen Militärverwaltung heran, die angezapft wurden. Bei einer Routineüberprüfung der Leitungen stellten die Sowjets aber Unregelmäßigkeiten bei den Stromspannungen fest und entdeckten den Tunnel. Daraufhin lud der sowjetische Militärkommandant zur Pressekonferenz und führte die völlig überraschten Journalisten an den Ort der Ausgrabungen. Für die Westpresse war es ein „Husarenstück“ der Amerikaner (FAZ), für die Ostmedien Beweis „feindlicher Wühlarbeit“ (Neues Deutschland).

Die Einladung des Ostberliner Bürgermeisters Ebert an seinen Westberliner Kollegen, mit ihm zusammen den Tunnel zu besichtigen, um Sorge zu tragen, daß „der Kalte Krieg in Berlin verhindert“ werde, schlug Otto Suhr aus. Solange es politische Häftlinge und willkürliche Verhaftungen gebe, könne dem Ostteil an Entspannung wohl nicht gelegen sein.

Auch drei Jahre später, als die (Ost-)Berliner Zeitung unter der Überschrift „Schlupfwinkel des Verbrechens“ auf einer Doppelseite Adressen und Telefonnummern Westberliner „Agentennester“ veröffentlichte, konterte der Westen vor allem mit dem Verweis auf die Machenschaften des Ostens. Zum einen stimme die Liste so nicht, zum anderen seien 1.200 Agententreffpunkte und 115 Fälle von Menschenraub im Ostsektor bekannt. „Ost-Berlin – nicht West-Berlin – ist das größte Spionagezentrum der Welt!“ schrieb Die Zeit im Juni 1959.

Am 13. April 1955 erscheint im Neuen Deutschland eine Erklärung des DDR-Ministerrats zu „Maßnahmen gegen die verbrecherischen Anschläge der imperialistischen Kriegstreiber und ihrer Spionage-Agenturen“. 521 Agenten habe die Staatssicherheit in den letzten Tagen festgenommen und Funkanlagen, gefälschte Pässe und Waffen beschlagnahmt. Die Westpresse kontert mit Schlagzeilen wie „Propagandistische Mätzchen“ und „Pankow braucht Sündenböcke“, das Schüren einer Agentenhysterie solle vom Versagen der ostdeutschen Regierung ablenken. Unbeirrt davon meldet das Neue Deutschland wenige Tage später, weitere 80 Agenten hätten sich freiwillig gestellt, um der Verfolgung durch die Staatssicherheit zu entgehen.

Ost und West benutzten spektakuläre Aktionen oder Enthüllungen geheimdienstlicher Tätigkeiten aber nicht nur, um den Systemgegensatz zu untermauern. Es gab auch zahllose kleine Kämpfe um wechselseitige Beschuldigungen. So beschuldigte der Westteil den Osten, die S-Bahn zur Spionage zu mißbrauchen und die Einnahmen aus dem Fahrkartenverkauf zur Finanzierung von Sabotageakten zu nutzen. Auf der Gegenseite nahm die Staatssicherheit 1956 eine Reihe von Angestellten der evangelischen Bahnhofsmissionen fest. Ihnen wurde vorgeworfen, ihre Positionen zum Ausspionieren der Verkehrsanlagen mißbraucht zu haben.

Mit der Errichtung des „antifaschistischen Schutzwalls“ und dem Auslaufen der konfrontativen Phase des Kalten Kriegs Anfang der sechziger Jahre gehen die sichtbaren und spektakulären Geheimdienstoperationen in Berlin zurück. Der Bau der Mauer beendet die relativ hohe Bewegungsfreiheit in der geteilten Stadt. Die besondere geographische Lage als Schnittstelle zwischen Ost und West dient von nun an vor allem dem Agentenaustausch. Und mit dem Ende des Ost-West-Konflikts ist es auch damit vorbei.

Der Fall „Otto John“ aber zeigt, daß die aufgeladene Atmosphäre der fünfziger Jahre noch nicht ganz vergangen ist. Obwohl es heute aufgrund von neuen Zeugenaussagen als sicher gilt, daß Otto John in den Osten entführt wurde, ist in der „deutschen Dreyfusaffäre“ (Prinz Louis Ferdinand von Preußen) keine Rehabilitation absehbar. Tobias Rapp