Kino für kritische Badeurlauber

Neues von Clara Law, Jean-Luc Godard, Aurelio Grimaldi: Heute eröffnen die bei Kollegen höchst beliebten Filmfestspiele von Locarno. Zu Recht hat man sich inzwischen von der Fixierung auf Erstlingswerke verabschiedet  ■ Von Andy Eglin

Für Variety, den „International Film Guide 1996“, ist das zweitälteste Festival Europas „one of the world's top half dozen fest“. Wie das Ranking auch sei, Locarno ist kleiner, aber auch feiner als die Großfestivals des Kontinents – CannesVenedigBerlin – und doch einer der wichtigsten Treffpunkte des unabhängigen Films aus aller Welt.

Dabei ist dem Wettbewerb in den vergangenen Jahren die Formel, wonach nur erste, höchstens dritte Werke von FilmautorInnen zugelassen waren, immer mehr zur Krücke geworden. Auf diese Art landen oft die avanciertesten Produktionen in Nebenprogrammen. Nun aber hat die Internationale Vereinigung der FilmproduzentInnen (FIAPF) der Deregulierung ihr Plazet gegeben, und so können sich jetzt auch etablierte Regisseure vorstellen.

Die Festivalleitung wagt sich nach langer Abstinenz mit dem Hauptwettbewerb wieder auf die Piazza vor die Ströme der 7.500 Zugereisten, meist Badeurlauber, die unter einem fetten Honigmond auf mittelalterlichem Platz vor einer riesigen Leinwand sitzen. Bei Filmen, die den Mainstram verlassen, lichten sich deren Reihen rapide; so ist es hier nicht nur Jean- Marie Straub ergangen.

Das Programm läßt ein eifriges Bemühen um Internationalität erkennen. Die Beiträge kommen unter anderem aus Kanada, USA, Ägypten, Senegal, Iran, Griechenland, Portugal, Frankreich, Italien, Schweiz, Tschechien, Rußland. Mit großem Interesse wird ein Beitrag von Clara Law hier erwartet, die mit „Autumn Moon“ schon 1992 Gewinnerin des Goldenen Leoparden war, nun mit „Floating Life“, das die Krise einer Familie aus Hongkong bei der Emigration nach Australien beschreibt, sowie Aurelio Grimaldi mit „Nerolio“, der nochmals eine Version von Pier Paolo Pasolinis Tod liefert.

Mit Deutschland gibt es nur eine Koproduktion: „Seven Servants“ von Daryush Shokof mit Anthony Quinn als alterndem „Sorbas“ und Gutsherr auf der Suche nach dem letzten Lebenssinn.

Dafür kommt Werner Schroeter zu einem Ehrenleoparden nach so prominenten Vorgängern wie Volonté, Morricone, Fuller, Rivette, Muratowa, de Oliveira, und zuletzt Godard. Dabei werden Schroeters gesammelte Filmopern aufgeführt. Eine Weltpremiere der „Poussières d'amour“ („Abfallprodukte der Liebe“) vervollständigt die Reihe. Nach „Malina“ (1991) tritt Isabelle Huppert diesmal nur in einer Nebenrolle auf.

Dennoch wird sie am 15. August auf dem Podest mit dabeisein, wenn nicht ein Gewitter (wie letztes Jahr häufig) die Blitzlichter hinwegfegt.

In der Jury sitzen der Regisseur Gianni Amelio („Il ladro di bambini“, „L'America“), die Independent-Produzentin Christine Vachon („I shot Andy Warhol“), die Almodovar-Darstellerin Marisa Paredes sowie die Aktrice Valeria Bruni-Tedeschi („Les gens normaux n'ont rien d'exceptionnel“).

Sorgfältig ediert ist auch dieses Jahr in Locarno die Retrospektive. 1995 galt sie Abbas Kiarostami (Iran), der diesmal „Close Up“ in einem Nebenprogramm vorstellt. Nun zeigt die Retro weltweit erstmals das Gesamtwerk von Yussef Chahine, Ägyptens „Fellini“, den Meister einer interkulturellen Erzählkunst. Obwohl im Maghreb und in Frankreich eine lebende Legende für seinen Widerstand gegen den Fundamentalismus – am „Sultan Saladin“ schrieb auch Nagib Mahfus mit – wurde Chahines poetisches Plädoyer für einen Islam der Toleranz im deutschen Sprachraum noch kaum rezipiert.

Schließlich bietet Locarno den über 150.000 BesucherInnen in zehn klimatisierten Kinosälen aber auch anspruchsvolle Nebenprogramme: Dokumentarfilme der „Cinéastes du present“, von Autoren wie Robert Frank, Robert Kramer, dem Israeli Amos Gitai oder Al Pacino wird hier traditionell viel Aufmerksamkeit gewidmet.

Andere Reihen gelten der Videokunst, dem „jungen französischen Film“, den „Leoparden von Morgen“ oder Porträts von Regisseuren. In der „Semaine de la Critique“ porträtiert Richard Dindo den Südafrikaner Breyten Breytenbach.

Im Vorfeld von Locarno machte auch die neue Profilierung des Schaufensters auf das anderswo nicht unbedingt goutierte Schweizer Filmschaffen von sich reden. Es ist nun ebenfalls – auf Kosten kleinerer Festivals – als Wettbewerb dotiert, dazu mit dem höchsten Preisgeld (100.000 Mark) der Veranstaltung überhaupt. Womit auch im Verdrängungskampf des Autorenfilms die Überlebenden, darunter fraglos der wendige Festivaldirektor Marco Müller, immer härtere Bandagen überziehen.

Filmfestival Locarno, 8.–18. 8., Via della Posta 6, Ch-6600 Locarno