System „Befehl“

■ betr.: „Wutausbrüche um Mitter nacht“, taz vom 3./4.8. 96

[...] Das Übel, um das es geht, ist nämlich weniger ein spezifisch deutscher Kadavergehorsam, wie es Giordano, der sich hier plötzlich unter die Fittiche von Goldhagen flüchtet (kleine Gehässigkeit gegenüber einem von mir geschätzten Publizisten – hä, hä), darstellt, sondern das – durchaus international anerkannte – System „Befehl“.

„Befehl“, so drückt es „Bertelsmann's“ aus, ist die „Anweisung an einen Soldaten zu einem bestimmten Verhalten, die ein militärischer Vorgesetzter erteilt.“ Diese Beschreibung allein reicht aber nicht, ja, sie ist in gewisser Weise (typisch) euphemistisch. Der eigentliche Kick bei einem Befehl nämlich ist die Zwangsläufigkeit seiner Umsetzung, die unbedingt gewährleistet werden muß. Die Befehlsstruktur ist ja nur dann sinnvoll, wenn die ausführenden Organe (also beim Militär die Soldaten) auch wirklich das tun, und zwar auf jeden Fall und um jeden Preis das tun, was ihnen befohlen wurde. Das System „Befehl“ funktioniert entweder nur so oder überhaupt nicht. Und der Versuch, dem Soldaten so etwas wie eine Gewissensentscheidung, ob aufgrund seiner Überzeugungen oder Religion oder aufgrund von internationalen Kriegsspielregeln (Genfer Konventionen etc.), gegenüber dem Befehl einzuräumen, bedeutet eine Aufweichung des Systems „Befehl“, das ebendieses System, soll es im sog. Ernstfall funktionieren, nicht wirklich dulden kann. Bei effizienten Abläufen muß sofort gehandelt werden. Überlegungen, Bedenken, gar Diskussionen bedeuten in solchen Situationen einen nicht hinnehmbaren, weil irreversiblen Zeitverlust. Das System „Befehl“ zehrt nicht zuletzt vom (anzuerziehenden) Verträgen in den Befehlsgeber, als der Entscheidungsgewalt, die die größte Übersicht hat. [...]

Bei effizienten Diensten, die allgemeine Anerkennung genießen (z.B. Feuerwehr, Rettungsdienste, Katastrophenschutz), unterliegt dieses System keiner Anfrage, weil diese Dienste qua Statut ausschließlich lebensfördernd bzw. -erhaltend wirken. Schwieriger wird das schon beim Polizeidienst, weil dort die Einengung von (einzelnen) Lebensräumen Bedingung zur Erfüllung der allgemein lebensfördernden Aufgabe ist und damit ein Interpretationsspielraum eröffnet wird. Auch der Bereich des Militärischen rechtfertigt sich seit Römergedenken im Prinzip wie der des Polizeilichen und nimmt deshalb selbstredend auch als Mittel das Befehlssystem in Anspruch. Daß gerade durch die ethischen Fehlentscheidungen der Befehlsgeber es zu krassen, nämlich lebenstötenden, Fehlleistungen der Befehlsempfänger kommt, ist eine Einsicht, die in ihrer Breite erst aus dem vergehenden Jahrhundert wirkt. Zur Zeit versuchen wir, nicht zuletzt aus diesen Erfahrungen, den Bereich des Militärischen neu zu definieren. Dabei auch das System „Befehl“ für den militärischen Bereich in die Diskussion zu bringen, sehe ich als eine der wichtigsten ethischen Aufgaben dieses Jahrzehnts an.

[...] Wie aber ist nun, nach ein paar Jahrhunderten Aufklärung inklusive Glaubens- und Gewissensfreiheit des einzelnen, nach Einrichtung einer Tradition verfaßter Menschenrechte, nach humanitären internationalen Gesetzgebungen, die Kriegsspielregeln betreffend – wie ist nun also die offizielle Grenze des Systems „Befehl“ neu einzurichten? Wieviel Gewissen darf der einzelne und an welchen Stellen darf er es haben?

Die italienischen Richter haben das Befehlssystem erkannt, weil es einfach das noch geltende System ist und sie ein (militär-)rechtliches, kein politisches Urteil fällen wollten. Viele ausländische Kriegsverbrecherprozesse der Nachkriegszeit waren solche politischen Urteile und sind auch von der deutschen Rechten (m.E. zu Recht) formal als solche kritisiert worden. Wollen wir den Grad unserer Zivilisation fortschreiben, so wird es dagegen unumgänglich sein, das System „Befehl“ abzuändern, die Rechtslage dementsprechend einzurichten und ab da auch juristisch korrekt Taten wie die Priebkes abzuurteilen. Vor solchen Konsequenzen drücken wir uns, solange wir eine politische Verurteilung einfordern.

Die politische Justiz ist in ihrer theoretischen Konstruktion wenig ausgereift, ganz einfach, weil es sie offiziell nicht gibt, nicht geben darf. Gäbe es sie indes auch de facto nicht, sähe unsere politische Welt heute ganz anders – und ich wage zu behaupten: rückständiger – aus, als sie das tut. Auch und gerade in den Demokratien spielte die politisch motivierte Rechtsprechung (hauptsächlich bei den Verfassungsgerichten) durch ihren Charakter als normative Auslegung eine quasi-legislative Rolle. Im Moment kann man solche Wechselseitigkeit ja in Deutschland in den Fragen von §218, Tucholsky- Zitat und Asylkompromiß sehr schön verfolgen. [...] Weiter als die Italiener weisen uns da die deutschen „Mauerschützen-Prozesse“. Ich sehe diese Prozesse so, daß in dem Bemühen, politisch korrekte Urteile auszusprechen, also der DDR eins auf die Mütze zu geben (Klartext Mielke & Krenz: „Siegerjustiz“), en passant ein böses Geschwür in das ansonsten gefälligst politisch nicht anzufragende Befehlssystem eingepflanzt wurde. Durch die vielkritisierte Verurteilung der „Kleinen“, nämlich der den Todesschuß ausführenden Schützen, wird juristisch die Zwangsläufigkeit der Befehlsstruktur angegriffen.

Dem einzelnen Menschen wird die Hoheit über sein Gewissen – und damit natürlich auch die Verantwortungsfähigkeit – zugesprochen. Künftigen und derzeitigen Grenzern schreibt ein solches Urteil ins Stammbuch: Verlaßt euch nicht auf ein politisches System! Überlegt selbst, bevor ihr, einen Befehl ausübend, schießt!

Damit allerdings wird letztendlich eben die Effizienz des Befehlssystems für den Bereich Grenzschutz (und ansatzweise auch für den Bereich Militär) unterhöhlt.

Wir stehen also an einem Scheideweg: Entweder wir versuchen, das System „Befehl“ wieder voll zu installieren und riskieren damit juristisch korrekte Katastrophen wie das Priebke-Urteil. Oder wir versuchen, zumindest in den ambivalenten Bereichen Grenzschutz und Militär, die humanitären Traditionen für eine Gewissensentscheidung auszuweiten, riskieren damit aber das Befehlssystem als vielbefürchteten „Gammelhaufen“, der sich selbst ad absurdum führt. Für viele Armeegegner sicher eine beglückende Vision. Für Leute wie mich, die bei aller massiven Kritik am militärischen Bereich auch die ordnungsstiftende Macht eines Staatswesens nicht gewillt sind, allzu leichtfertig aufzugeben, schon auch eine nicht unbedenkliche Vorstellung. R. W. Moosdorf